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Das Löwenamulett

Das Löwenamulett

Titel: Das Löwenamulett
Autoren: Frank Schwieger
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Boden. »Seit wann interessieren sich Sklaven für Gedichte?«
    »Ich habe eine gute Ausbildung genossen zu Hause in Athen. Sklave zu sein, bedeutet nicht, dumm zu sein.« Er schaute Delia durchdringend an.
    »So war das doch nicht gemeint …«
    »Und wie bist du nach Rom gekommen?«, mischte ich mich ein.
    Myron zuckte mit den Schultern. »Na, wie wohl? Ich bin verkauft worden. Vor drei Jahren. An einen ehemaligen Consul. Ich habe für ihn die Schreibarbeit erledigt. Seine Augen waren schlecht, er konnte kaum noch sehen. Ein feiner alter Herr. Leider ist er im letzten Monat gestorben.«
    »Und dann?«
    »Dann hat mich mein neuer Herr gekauft, Senator Metellus. Und jetzt erledige ich für ihn die Schreibarbeit, setze Briefe auf, kopiere Akten, schreibe Rechnungen. Oder hole ihm im Circus Maximus etwas zu trinken.«
    »Behandelt er dich gut?«
    Myron presste die Lippen zusammen. Ich hatte den Eindruck, dass ihm Delias Frage unangenehm war. Er druckste:
    »Tja, ich bin ja noch nicht lange in seinem Haus. Ich muss mich noch an vieles gewöhnen.«
    21

    »Wo sind deine Eltern?«, fragte ich ihn, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
    »Ich weiß es nicht, ich habe sie nie kennengelernt. Sie waren auch Sklaven. Oder sind es immer noch. Ich wurde zum ersten Mal verkauft, als ich noch ein Baby war.«
    »Wollen wir uns vielleicht mal treffen?« Delia schienen Myrons Eltern nicht weiter zu interessieren. »Du könntest mir Griechisch beibringen.«
    Hatte sie nicht eben noch gesagt, dass sie Griechisch nutz-los fand?
    »Treffen?« Myron war sichtlich verwirrt. »Wir uns treffen? Aber ich bin doch ein Sklave. Und du die Tochter eines berühmten Dichters.«
    Delia zuckte mit den Schultern. »Ich rede doch auch mit anderen Sklaven. Also, was soll schon dabei sein?«
    Myron lächelte verlegen. »Wenn du meinst … Aber ich muss erst meinen Herrn fragen. Und du deinen Vater. Wenn die nichts dagegen haben, können wir uns ja vielleicht wirklich mal sehen.«
    Viel hätte in diesem Moment nicht gefehlt, und Delia wäre tatsächlich wie die arme Nymphe Echo dahingeschmolzen.
    »Beim Herakles!«, rief Myron plötzlich. »Entschuldigt bitte, aber der Senator wartet auf seinen Wein.«
    Im nächsten Augenblick war er, beide Hände fest um den Becher gelegt, auf der Treppe verschwunden, die hinunter zu den Ehrenplätzen führte. Ich war mir nicht sicher, wer in diesem Moment heller strahlte, Helios mit seinem Feuerwagen hoch oben auf der Himmelsachse – oder Delia.
    22

    Zur ersten Stunde an den Iden des Juli, bei Sonnenaufgang am 15. Juli
    AmAbendsaßenDeliaundichnochlangeaufdemBalkon vor ihrem Zimmer. Wir redeten über den Tag und über das, was wir in den nächsten Tagen in Rom unternehmen wollten. Und immer wieder schaute Delia hinüber in den Garten des Nachbarn und hoffte, dort Myron erblicken zu können. Vergeblich. Zu sehen war nur der Gärtner, der die Kühle der Dämmerung nutzte und im letzten Tageslicht an den Blumenbeeten herumwerkelte.
    Als wir uns schließlich schlafen legten, ließen wir die Tür zum Balkon offen, damit die Grillen uns noch ein Gute-nachtlied spielen konnten. Der Tag war lang und anstren-gend gewesen, ich schlief bald ein und träumte von einem wilden Wagenrennen, an dem ich selbst als Auriga teilnahm.
    Ich träumte von Tausenden Zuschauern, die mir zujubelten 23

    und meine Farben schwenkten, von einem weißen Fahrer, der mir dicht auf den Fersen war – ich konnte seine Pferde schnaufen hören, spürte ihren heißen Atem im Nacken! –, von donnernden Hufen, glänzenden Pferderücken und von Myron, der aufgelöst vor mir stand und mir etwas erzählen wollte.
    »Lycoris!«, rief er und sah ganz verzweifelt aus.
    »Lycoris, wach auf!«
    Er packte mich an den Schultern und rüttelte mich. Wieso sollte ich aufwachen? Ich war doch wach. Ich stand doch auf meinem Rennwagen.
    Nein.
    Ich stand nicht auf einem Rennwagen. Ich lag in meinem Bett – und Myron beugte sich über mich und rüttelte mich tatsächlich.
    »Lycoris, so wach doch auf!«
    »Was ist hier los?«
    Hinter ihm tauchte Delia aus dem Halbdunkel des Zimmers auf. Ich richtete mich im Bett auf und rieb mir die Augen. Das war eindeutig kein Traum. Vor mir stand Myron, schwer atmend, mit einer blutenden Nase und einer Platz-wunde an der Stirn.
    »Was ist hier los?«, wiederholte Delia, die genauso überrascht war wie ich. »Was machst … oh!«
    Sie wich einen Schritt zurück. Wahrscheinlich hatte sie gerade erkannt, dass es Myron war,
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