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Das Limonenhaus

Titel: Das Limonenhaus
Autoren: Stefanie Gerstenberger
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richtige Zahl: eintausendachtundneunzig Tage, also zwei normale Jahre, plus ein Schaltjahr, zwei Tage und ein paar ausdrücklich unausgerechnete Minuten war mein Bruder Leonardo nun schon tot. Was nichts anderes bedeutete, als dass drei Sommer und drei Weihnachten ohne ihn vergangen waren und dass seine kräftigen Hände mich nie mehr festhalten, zwicken und etwas zu fest auf den Oberarm boxen würden. In diesem Moment hatte mein Handy geklingelt. Wahrscheinlich Susa, die genau wie ich in diesem Moment am Herd stand und wissen wollte, ob wir uns heute Abend sehen würden. Susa war meine einzige richtige Freundin, eine Freundin-auf-den-ersten-Blick, wenn es so etwas gibt. Sie war alles, was ich nicht war: ausgehfreudig, unabhängig, konsequent, über eins siebzig groß, blond und Mutter. Ich ging in den Gastraum und ließ meinen Blick suchend durch die Beine der hochgestellten Stühle und die geöffnete Restauranttür schweifen. Wo hatte ich das Handy bloß hingelegt? Auf dem nassen Bürgersteig standen Seifenblasen vom Putzwasser und platzten träge vor sich hin. Mamma Maria sah und hörte ich nicht, dabei wusste ich, dass sie hier irgendwo sein musste. Meine Mutter redete kaum, manche Leute hielten sie sogar für taub. Oder stumm. Oder beides. In der Stille zwischen den Klingeltönen dröhnte der Motor eines Lieferwagens, der auf den Hof fuhr. Mein Vater, der vom Großmarkt zurückkam.
    Ich entdeckte mein Handy neben der Zapfanlage.
    »Lella Bellone«, meldete ich mich. Es rauschte in der Leitung, weit entfernt.
    »Pronto?«
    Nichts.
    »Pronto!? - Hallo!«

    »Lella? Sei tu? Sei proprio tu!?«
    Das war nicht Susa. Meine Nackenhärchen richteten sich auf. Bist du es? Du bist es doch!? Es gab nur einen, der solche Doppelfragen stellte. Er redete auf Italienisch auf mich ein, ich hörte zu, und irgendwann murmelte ich: »Heute am späten Nachmittag? Ich werde da sein.« Hastig drückte ich die rote Hörertaste, um sein »Ja, aber...« nicht mehr hören zu müssen.
    »Verbindung beendet«, erschien auf dem Display. Ich schaute mich um. Die Uhr über dem Tresen zeigte fünf Minuten nach halb neun. Mit sehr viel Glück würde ich den Flug um 10.45 Uhr bekommen. Den Sommerflugplan konnte ich auswendig.
    Ich versuchte mich zu konzentrieren: Pass, Geld, Waschund Schminkzeug, etwas Schwarzes zum Anziehen, mein kleiner Rollkoffer und Leonardos alte Fototasche würden für die Reise genügen. Meinem Vater konnte ich etwas von überraschenden Chorproben oder einem spontanen Ausflug mit Susa und ihrem Sohn Timmi erzählen, das war das kleinste Problem.
    »Gibt es eben meine Pfannenpizza fantastica, wenn meine kleine Köchin nicht da ist. Geht doch auch, sind wir Pizzeria oder sind wir nicht Pizzeria?!«, würde er nur sagen.
     
    Die Maschine hatte sich in der Zwischenzeit in Bewegung gesetzt, wir rollten auf unsere Startposition und hielten kurz an. Mit Gebrüll setzten die Triebwerke ein. Ich hatte keine Angst vor dem Fliegen, doch allein der Gedanke an das, was mich auf Sizilien erwartete, hatte meinen Magen zu einem kleinen Beutel voller Eiswürfel zusammenschrumpfen lassen. Ich bin so verdammt allein ohne dich, Leonardo,
dachte ich verzweifelt. Obwohl er tot war, redete ich mit meinem Bruder. Ich konnte seine Stimme hören, seine spöttischen Kommentare, wir diskutierten, wir stritten. Doch wir lachten auch miteinander, vielleicht sogar öfter als vor seinem Tod.
    Leonardo, das, was ich dir versprochen habe, werde ich nicht hinkriegen. Guck mich doch an, wie stellst du dir das vor?
    Ich stelle mir gar nichts mehr vor, denn ich bin tot.
    Ja, danke, ich weiß...
    »Hallo, darf ich mich vorstellen, Philip Domin.«
    »Domin?« Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch, die Zeitschrift auf meinem Schoß fiel hinunter. Wir bückten uns gleichzeitig und tasteten mit Mühe danach, denn wir befanden uns noch im Steigflug. Für einen Moment nur wollte ich die Täuschung hinauszögern: Leonardos Hände wurschtelten neben meinen unter dem Sitz herum, auch die Unterarme stimmten. Männlich behaart, hellbraun gelockt, auf leicht gebräunter Haut. Dann, mit einem Mal, war ich seinem Hals ganz nahe und konnte den Geruch seiner Haut, mit nur einem Hauch Aftershave, einatmen. Urplötzlich überkam mich ein heftiger Wunsch: Ich wollte diesen Fremden neben mir ganz unschwesterlich küssen, und bei diesem Gedanken wurde es heiß in meinem Schoß. Wir tauchten wieder auf, sein Kopf war rot, meiner sicher auch.
    »Ja, aber nennen Sie mich ruhig
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