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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier
Autoren: Patricia Cornwell
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erzählt?« In seinen Augen flackert Unmut auf. Er kann Jay nicht ausstehen, und das seit dem Augenblick, als er ihn in Frankreich zum ersten Mal gesehen hat. »Ich kann's nicht fassen. Hat er dich in dem Glauben gelassen, dass er die ganze Zeit im Krankenhaus auf dich gewartet hat? Das hat er natürlich nicht! Einen Scheiß hat er. Er hat dich auf seinem verdammten weißen Pferd hingebracht und ist sofort wieder zurückgekommen. Dann hat er angerufen, um rauszufinden, wann du entlassen wirst, und ist wieder zum Krankenhaus gefahren, um dich abzuholen.«
    »Was nur vernünftig war.« Ich lasse mir die Kränkung nicht anmerken. »Es wäre sinnlos gewesen, herumzusitzen und Däumchen zu drehen. Und er hat auch nie behauptet, dass er die ganze Zeit über dort war. Ich habe es nur angenommen.«
    »Und warum wohl? Weil er dich in dem Glauben gelassen hat. Er lässt dich was glauben, was nicht stimmt, und du findest das in Ordnung? Ich nenne so was einen schlechten Charakterzug. Ich nenne es lügen... Was?« Sein Tonfall ist plötzlich ein anderer. Jemand steht in der Tür.
    Eine uniformierte Polizistin, auf deren Namensschild M.I. Calloway steht, betritt mein Schlafzimmer. »Entschuldigen Sie«, sagt sie zu Marino. »Captain, ich wusste nicht, dass Sie hier sind.«
    »Jetzt wissen Sie es.« Er starrt sie finster an.
    »Dr. Scarpetta?« Ihre weit aufgerissenen Augen springen wie Ping-Pong-Bälle zwischen Marino und mir hin und her. »Ich muss Sie was wegen dem Glas fragen. Wo stand dieses Glas mit der Chemikalie, dem Formulin -«
    »Formalin«, korrigiere ich sie.
    »Richtig«, sagt sie. »Genau, ich meine, wo genau stand das Glas, als Sie es in die Hand nahmen?«
    Marino bleibt auf meinem Bett sitzen, als würde er es sich dort jeden Tag seines Lebens bequem machen. Er tastet nach seinen Zigaretten.
    »Auf dem Couchtisch im großen Zimmer«, sage ich zu Calloway. »Das habe ich schon mehrmals gesagt.«
    »Ja, Ma'am, aber wo auf dem Couchtisch? Es ist ein ziemlich großer Tisch. Es tut mir wirklich Leid, dass ich Sie damit belästigen muss. Aber wir wollen nur rekonstruieren, wie alles passiert ist, weil es später schwieriger ist, sich daran zu erinnern.« Langsam schüttelt Marino eine Lucky Strike aus seiner Schachtel.
    »Calloway?« Er würdigt sie keines Blicks. »Seit wann sind Sie bei der Kriminalpolizei? Soweit ich weiß, sind Sie nicht beim Dezernat A.« Er ist Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen der Polizei von Richmond, bekannt als Dezernat A.
    »Wir wissen einfach nicht, wo genau das Glas stand, Captain.« Ihre Wangen sind feuerrot.
    Die Polizisten nahmen wahrscheinlich an, dass ich mich weniger bedrängt fühle, wenn eine Frau mich befragt. Vielleicht haben ihre Kollegen sie deswegen geschickt, vielleicht bekam sie diesen Auftrag auch nur, weil sich keiner von ihnen mit mir anlegen will.
    »Wenn man in das große Zimmer kommt und vor dem Tisc h steht, dann befand sich das Glas in der rechten unteren Ecke«, sage ich zu ihr. Ich bin die ganze Sache schon mehrmals durchgegangen. Nichts ist klar. Was passiert ist, ist verschwommen, eine unwirkliche Deformation der Wirklichkeit.
    »Und da standen Sie auch ungefähr, als Sie ihm die Chemikalie ins Gesicht schütteten?«, fragt mich Calloway.
    »Nein. Ich stand hinter der Couch. In der Nähe der gläsernen Schiebetür. Er verfolgte mich, und dort kam ich zum Stehen«, erkläre ich.
    »Und danach sind Sie direkt aus dem Haus gelaufen.?« Calloway streicht etwas durch, was sie gerade in einen kleinen Notizblock geschrieben hat.
    »Durch das Esszimmer«, unterbreche ich sie. »Wo meine Pistole war, wo ich sie früher am Abend auf den Esszimmertisch gelegt hatte. Zugegeben, kein guter Platz, um sie rumliegen zu lassen.« Meine Gedanken schweifen ab. Ich fühle mich, als hätte ich starken Jetlag. »Ich habe auf den Alarm gedrückt, und dann bin ich zur Vordertür raus. Mit der Pistole, der Glock. Aber ich bin auf dem Eis ausgerutscht und habe mir den Ellbogen gebrochen. Ich konnte den Schieber nicht zurückziehen, nicht mit nur einer Hand.« Sie schreibt auch das auf. Meine Geschichte ist immer wieder dieselbe. Wenn ich sie noch einmal erzählen muss, drehe ich vielleicht durch, und kein Polizist auf Erden hat mich je durchdrehen sehen.
    »Sie haben aber nicht geschossen?« Sie sieht mich an und befeuchtet die Lippen.
    »Ich konnte den Schieber nicht zurückziehen.«
    »Sie haben nicht versucht, zu schießen?«
    »Ich weiß nicht, was Sie mit versuchen meinen.
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