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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier
Autoren: Patricia Cornwell
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blondes Haar ist zerzaust, meine blauen Augen sind glasig und von Erschöpfung und Stress gezeichnet, meine Stirn ist gerunzelt, als würde ich gleich in Tränen ausbrechen. Der Laborkittel ist schmutzig und voller Flecken und hat überhaupt nichts Chefmäßiges. Ich bin sehr blass. Das Verlangen nach einem Drink und einer Zigarette ist ungewöhnlich stark, nahezu unerträglich, als wäre ich augenblicklich zum Junkie geworden, nur weil ich fast ermordet worden wäre. Ich stelle mir vor, ich wäre allein. Nichts ist passiert. Ich sitze vor dem Kaminfeuer, rauche eine Zigarette, trinke ein Glas französischen Wein, vielleicht einen Bordeaux, weil Bordeaux nicht so kompliziert ist wie Burgunder. Bordeaux ist wie ein guter alter Freund, den man nicht mehr enträtseln muss. Ich vertreibe die Fantasie mit Fakten: Es spielt keine Rolle, was Lucy getan oder nicht getan hat. Irgendwann wäre Chandonne gekommen, um mich umzubringen, und ich fühle mich, als hätte ein schreckliches Verdikt mein Leben lang auf mich gewartet und meine Tür gekennzeichnet wie der Todesengel. Seltsamerweise lebe ich noch.

1
     
    Ich höre an Lucys Stimme, dass sie Angst hat. Meine brillante, energische, Helikopter fliegende, fitnessbesessene Agentinnennichte hat nur selten Angst.
    »Ich fühle mich wirklich mies«, sagt sie zum wiederholten Mal, während Marino weiterhin auf meinem Bett sitzt und ich auf und ab gehe.
    »Das solltest du nicht«, sage ich. »Die Polizei will niemanden hier haben, und glaub mir, du möchtest auch nicht hier sein. Du bist vermutlich bei Jo, und das ist auch gut so.« Ich klinge, als ob es mir recht wäre, als ob es mir nichts ausmachen würde, dass sie woanders ist und ich sie den ganzen Tag nicht gesehen habe. Aber es ist mir nicht recht. Es macht mir etwas aus. Andererseits ist es eine alte Angewohnheit von mir, den Leuten immer einen Ausweg offen zu lassen. Ich werde nicht gern zurückgewiesen, schon gar nicht von Lucy Farinelli, die ich wie eine Tochter großgezogen habe.
    Sie zögert, bevor sie antwortet. »Also, ich bin im Jefferson.« Ich versuche, mir einen Reim darauf zu machen. Das Jefferson ist das beste Hotel der Stadt, und ich verstehe nicht, warum sie überhaupt in einem Hotel abgestiegen ist, noch dazu in einem eleganten und teuren. Tränen brennen in meinem Augen, und ich dränge sie zurück, räuspere mich, schlucke die Kränkung hinunter.
    »Oh«, sage ich. »Das ist gut. Vermutlich ist Jo dann bei dir i m Hotel.«
    »Nein, sie ist bei ihrer Familie. Ich habe gerade erst eingecheckt. Ich habe auch ein Zimmer für dich. Soll ich dich abholen?«
    »Ich glaube, ein Hotel ist im Moment keine so gute Idee.« Si e hat an mich gedacht und will, dass ich zu ihr komme. Ich fühle mich ein bisschen besser. »Anna hat mir angeboten, bei ihr zu wohnen. In Anbetracht der Umstände ist es das Be ste, wenn ich zu ihr ziehe. Dich hat sie auch eingeladen. Aber du bist jetzt vermutlich schon untergebracht.«
    »Woher weiß Anna Bescheid?«, fragt Lucy. »Hat sie's in den Nachrichten gehört?«
    Da der Anschlag auf mein Leben zu einer sehr späten Stunde erfolgte, werden die Zeitungen erst morgen früh darüber berichten. Aber ich denke, dass die Radio- und Fernsehsender sich darauf gestürzt haben. Ich weiß nicht, wie Anna davon erfahren hat. Lucy sagt, dass sie im Hotel bleiben, aber später am Abend vorbeischauen will. Wir beenden das Gespräch.
    »Das würde gerade noch fehlen. Wenn die Medien rausfinden, dass du im Hotel bist, wird sich hinter jedem Busch ein Journalist verstecken«, sagt Marino, runzelt die Stirn und sieht dabei grauenhaft aus. »Wo ist Lucy?«
    Ich erzähle ihm, was sie gesagt hat, und wünschte beinahe, ich hätte nicht mit ihr gesprochen. Jetzt fühle ich mich noch miserabler. Als säße ich in der Falle, als befände ich mich in einer Taucherglocke, hunderte von Metern unter der Meeresoberfläche, losgelöst, benommen, die Welt plötzlich nicht mehr erkennbar und surreal. Ich bin einerseits wie betäubt, andererseits sind alle meine Nerven aufs Äußerste gereizt.
    »Im Jefferson?«, sagt Marino. »Du machst wohl Witze! Hat sie im Lotto gewonnen oder was? Und wenn die Medien das rausfinden? Was zum Teufel ist bloß in sie gefahren?«
    Ich packe weiter. Ich kann seine Frage nicht beantworten. Ich habe die Nase voll von Fragen.
    »Und sie ist nicht bei Jo. Aha«, fährt er fort. »Das ist interessant. Habe mir gleich gedacht, dass die Sache nicht von Dauer sein wird.« Er gähnt lauthals und
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