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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier
Autoren: Patricia Cornwell
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anzufassen. Ich bin davongekommen, und damit hat's sich, wiederholte ich gebetsmühlenartig zwischen einer Röntgenaufnahme und der nächsten. Bis zum späten Nachmittag musste ich zur Beobachtung dableiben, Polizeibeamte gingen ein und aus und nahmen meine Kleide r mit. Meine Nichte Lucy musste mir etwas zum Anziehen bringen. Ich habe nicht geschlafen.
    Das Klingeln des Telefons durchstößt die Luft, als ob sie Folie wäre. Ich greife zum Apparat neben dem Bett und nehme den schnurlosen Hörer. »Dr. Scarpetta«, sage ich, und der Klang meines Namens weckt Erinnerungen an Anrufe mitten in der Nacht, wo ich abnehme und die Polizei mich von einem schrecklichen Verbrechen unterrichtet. Als ich meine eigene, wie gewohnt geschäftsmäßige Stimme höre, sehe ich das bislang verdrängte Bild vor mir: mein verwüsteter Körper auf meinem Bett, überall im Raum, in diesem Raum, verspritztes Blut, und dann das Gesicht meines Stellvertreters, als die Polizei -wahrscheinlich Marino - ihn telefonisch davon in Kenntnis setzt, dass ich ermordet wurde und irgendjemand, Gott weiß wer, zum Tatort kommen muss. Mir schießt durch den Sinn, dass niemand aus meinem Institut auch nur im Entferntesten für diese Aufgabe in Frage käme. Dank meiner Hilfe hat Virginia den besten Katastrophenplan aller Staaten. Wir werden mit jedem größeren Flugzeugabsturz fertig oder mit einer Bombenexplosion im Stadion oder einer Überschwemmung, aber was wäre, wenn mir etwas zustieße? Man würde einen Gerichtsmediziner aus einem anderen, nahe gelegenen Zuständigkeitsbereich holen, aus Washington vermutlich. Das Problem ist nur, dass ich die Ostküste rauf und runter so gut wie jeden Gerichtsmediziner kenne, und mir täte es fürchterlich Leid, wenn einer von ihnen meine Leiche sezieren müsste. Es ist sehr schwierig, einen Fall zu bearbeiten, wenn man das Opfer persönlich kannte. Diese Gedanken jagen mir durch den Kopf wie aufgescheuchte Vögel, als Lucy mich fragt, ob ich irgendetwas brauche, und ich ihr versichere, dass es mir gut geht, was vollkommen lächerlich ist.
    »Komm schon, es kann dir gar nicht gut gehen«, erwidert sie.
    »Ich packe. Marino ist da, und ich packe«, wiederhole ich stur und fixiere Marino dabei kalt. Er sieht sich um, und langsa m dämmert mir, dass er noch nie zuvor in meinem Schlafzimmer war. Ich will mir seine Fantasien nicht vorstellen. Ich kenne ihn seit vielen Jahren und war mir immer bewusst, dass sein Respekt für mich gewürzt ist mit einer Prise Unsicherheit und sexuellem Verlangen. Er ist ein Schrank von einem Mann mit einem dicken Bierbauch und einem großen, mürrischen Gesicht, sein Haar ist farblos und hat sich auf unattraktive Weise von seinem Kopf auf andere Körperteile ausgebreitet. Ich höre meiner Nichte zu, während Marinos Augen mein Privatestes abtasten: meine Kommoden, meinen Schrank, die offenen Schubladen, die Sachen, die ich gepackt habe, und meine Brüste. Als Lucy mir Tennisschuhe, Socken und einen Jogginganzug ins Krankenhaus brachte, dachte sie nicht an einen BH, und als ich hier war, zog ich nur einen alten weiten Laborkittel über, den ich als Schürze trage, wenn ich Hausarbeiten erledige.
    »Schätze, sie wollen dich loswerden«, kommt Lucys Stimme über die Leitung.
    Es ist eine lange Geschichte, aber meine Nichte ist Agentin des ATF, des Büros für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen, und als die Polizei hier anrückte, konnten sie sie gar nicht schnell genug vom Gelände eskortieren. Vielleicht fürchteten sie, dass sich eine hochrangige Agentin in die Ermittlungen einschalten würde. Jedenfalls fühlt sie sich schuldig, weil sie gestern Abend nicht für mich da war und ich beinahe umgebracht worden wäre, und jetzt ist sie wieder nicht für mich da.
    Ich gebe ihr zu verstehen, dass ich ihr nicht den geringsten Vorwurf mache. Aber ich frage mich auch, wie mein Leben wohl aussehen würde, wenn sie hier bei mir gewesen wäre, als Chandonne auftauchte - statt sich um ihre Freundin zu kümmern. Vielleicht hätte Chandonne gewusst, dass ich nicht allein war, und er wäre nicht gekommen, oder die Anwesenheit einer zweiten Person im Haus hätte ihn überrascht und er wäre geflüchtet, oder er hätte meinen Tod auf morgen verschoben oder auf übermorgen oder Weihnachten oder bis ins nächst e Jahrtausend. Ich wandere auf und ab, während ich mir Lucys atemlose Erklärungen und Kommentare anhöre, und als ich an dem mannshohen Spiegel vorbeikomme, werfe ich einen Blick hinein. Mein kurzes
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