Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)

Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Barbara Goldstein
Vom Netzwerk:
dem bestürzenden Gedanken, dass ich tot bin?
    Drei Tage!
    »Richtig.«
    »Ist das der Schlüssel, den wir suchen?« Ich spüre den Schmerz, als Fra Adrian versucht, meine verkrampften Finger mit Gewalt aufzubiegen. Ich warte auf ein Knacken, wenn die Finger brechen, aber ich höre nichts. Dann lässt der Schmerz langsam nach.
    »Ich weiß es nicht«, sagt Fra Gil. »Es ist ein Schlüssel dieser Abtei, so viel ist sicher.«
    »Sie muss es hier versteckt haben.«
    Was muss ich versteckt haben? Vor wem? Vor den drei Mönchen? Ich kenne sie doch nicht einmal! Oder doch? Sie scheinen allerdings zu wissen, wer ich bin …
    Ich muss in Ruhe darüber nachdenken.
    Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich kann mich nicht erinnern, an gar nichts. Wenn ich in die Zeit vor meinem Erwachen zurückblicken will, ist da nur Finsternis. Und Blut. Und Schmerz. Was habe ich getan? Habe ich jemanden getötet? Wieso bin ich hier? Und was habe ich versteckt?
    Und was war dann?
    Nichts. Keine Erinnerungen. Nur die Finsternis des Vergessens.
    Ein scharfer Schmerz durchzuckt meine Hand, als Fra Adrian mir den Schlüssel mit Gewalt entreißt. Ich will die Finger bewegen, aber es gelingt mir nicht. Und die Füße? Ich versuche zu strampeln, um die Decke, die auf mir zu liegen scheint, wegzutreten, doch es geht nicht. Wie gelähmt liege ich auf dem Bett, auf dessen Rand die Fratres sitzen. Und der Kopf? Nein. Ich kann nicht einmal sagen, ob ich liege oder ob ich in den Kissen lehne.
    Was ist geschehen?, denke ich entsetzt. Bin ich gestürzt? Habe ich mir das Genick gebrochen? Kann ich mich deshalb nicht bewegen? Fra Adrian sprach eben von Wunden, die Fra Gil versorgt hat, von Blut … und ich spüre auch Schmerzen, die wie Meereswogen immer wieder durch meinen Körper branden. Habe ich drei Tage lang in tiefer Ohnmacht gelegen? Bin ich erwacht? Oder träume ich? O Gott, lass es ein Albtraum sein, aus dem ich gleich erwache!
    »Ein großer Schlüssel, wie zu einem Gewölbe.« Fra Adrian scheint den Schlüssel zu betrachten. Der Stoff seines Habits raschelt leise, als er ihn schließlich weiterreicht.
    »Wir müssen es finden«, drängt Fra Gil. »Die Zeit zerrinnt uns zwischen den Fingern. Sie suchen bestimmt schon nach ihr.«
    Wer sucht nach mir? Mein Vater? Ich denke angestrengt nach, doch außer ihm fällt mir niemand ein. Habe ich einen Ehemann? Ich weiß es nicht. Ein Fetzen Erinnerung formt sich zu einem Gesicht, das sich ständig verändert, als würde ich es in einem Spiegel betrachten, über den eine klare Flüssigkeit träge hinabrinnt, die die Gesichtszüge, die Augen, die Nase, die Lippen, die Haare verzerrt. Oder als wären es verschiedene Männer. Drei? Vier? Oder fünf? Gott, ist das enttäuschend!
    Dann sehe ich plötzlich Blut, eine große Lache auf einem glänzenden Marmorboden. Daneben liegt ein Mann. Sein Gesicht kann ich nicht erkennen, aber ich weiß, dass er tot ist. Wer ist er? Einer meiner Ehemänner, an deren Gesichter ich mich nicht mehr erinnern kann? So viel Blut! Schluchzend weiche ich einen Schritt zurück, fahre mir mit einer blutnassen Hand über das Gesicht. Mit der anderen umklammere ich den Dolch, von dem das Blut tropft …
    Dieselbe Erinnerung wie vorhin. Was habe ich getan?
    »Wie kommst du darauf, dass sie nach ihr suchen?«, fragt Fra Lionel mitten hinein in meine verstörenden Visionen.
    »Während des Schneesturms vor vier Tagen hat sie einen alten Schäfer nach dem Weg gefragt, nachdem sie und Fra Galcerán sich in den tief verschneiten Bergen um den Gran Sasso hoffnungslos verirrt hatten. Vielleicht hat er sie erkannt …«
    Wir sind also in den Abruzzen. In einer Abtei unweit des Gran Sasso. Bis Rom sind es sechzig oder siebzig Meilen durch das verschneite Gebirge. Gut zu wissen. Wieso? Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, warum Rom wichtig für mich ist. Wenn ich versuche, mir Rom vorzustellen, denke ich an einen Thronsaal und einen majestätisch wirkenden Mann in weißer Soutane, der mich mit väterlichem Gestus zu sich winkt und der mich mit einem verschwörerischen Augenzwinkern auf den Stufen zu seinem Thron auf einem purpurnen Samtkissen sitzen lässt. Wie alt war ich damals? Acht? Oder neun? Und wer ist der Mann? Mein Vater?
    Und wer ist eigentlich Fra Galcerán? Ein vierter Mönch, dem Namen nach aus Aragón? Ist er auch hier? Ich lausche, aber ich kann nur drei Männer hören. Wo ist Fra Galcerán?
    »Wie ärgerlich!« Fra Adrian knirscht mit den Zähnen. »Es kann sein, dass der Alte wusste,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher