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Das Leben und das Schreiben

Das Leben und das Schreiben

Titel: Das Leben und das Schreiben
Autoren: Stephen King
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Mutter mit einer Zeitschrift im Wartezimmer saß, auf die sie sich wahrscheinlich nicht konzentrieren konnte (jedenfalls möchte ich mir das so gern vorstellen). Wieder wehte der durchdringende Geruch von Alkohol durchs Zimmer, und der Arzt wandte sich mit einer Nadel zu mir um, die so lang war wie mein Lineal in der Schule. Wieder dieses Lächeln, dieses Näherkommen, die Versicherung, es würde diesmal nicht wehtun.
    Seit diesen wiederholten Ohrbohrungen im Alter von sechs Jahren ist einer meiner festen Grundsätze im Leben: Legt mich einer rein, soll er sich schämen. Legt er mich zweimal rein, muss ich mich schämen. Legt er mich dreimal rein, müssen wir uns beide schämen. Als ich zum dritten Mal auf dem Tisch des Ohrenarztes lag, schlug ich um mich, strampelte, kämpfte und kreischte. Jedes Mal, wenn sich die Nadel meinem Gesicht näherte, schlug ich sie fort. Schließlich rief die Schwester meine Mutter im Wartezimmer, und gemeinsam gelang es ihnen, mich so lange festzuhalten, dass der Arzt seine Nadel einführen konnte. Ich schrie so lange und so laut, dass ich es heute noch hören kann. Ich glaube sogar, dass dieser letzte Schrei noch immer in einem versteckten Winkel meines Kopfes widerhallt.

6
     
    Nicht lange darauf, in einem düsteren, kalten Monat (es muss Januar oder Februar 1954 gewesen sein, wenn ich richtig gezählt habe), stand das Taxi wieder vor der Tür. Diesmal war der Spezialist kein Ohrenarzt, sondern ein Halsarzt. Und wieder saß meine Mutter im Wartezimmer, wieder hockte ich auf dem Untersuchungstisch, mit einer Krankenschwester in der Nähe, und wieder hing der beißende Geruch von Alkohol in der Luft. Dieser Geruch schafft es noch immer, meinen Herzschlag innerhalb von fünf Sekunden zu verdoppeln.
    Diesmal jedoch passierte nicht mehr, als dass eine Art Abstrich von meinem Hals gemacht wurde. Es pikste und schmeckte fürchterlich, aber nach der langen Nadel des Ohrenarztes war das hier wie ein Spaziergang im Park. Der Halsarzt setzte sich eine interessante Vorrichtung auf den Kopf, die mit einem Halteriemen befestigt war. In der Mitte war ein Spiegel, aus dem ein helles, grelles Licht wie ein drittes Auge schien. Lange sah er mir in den Hals, wies mich an, den Mund so weit aufzureißen, bis meine Kieferknochen knackten. Aber weil er keine Nadeln in mich schob, mochte ich ihn. Nach einer Weile durfte ich den Mund wieder schließen, und er ließ meine Mutter holen.
    »Das Problem sind seine Mandeln«, sagte der Arzt. »Die sehen aus, als hätte eine Katze ihre Krallen daran gewetzt. Sie müssen raus.«
    Irgendwann danach wurde ich unter sehr helle Lampen geschoben. Ein Mann mit einem weißen Mundschutz beugte sich über mich. Er stand am Kopfende des Tisches, auf dem ich lag (1953 und 1954 lag ich andauernd auf Tischen). Für meine Begriffe stand er auf dem Kopf.
    »Stephen«, sagte er, »kannst du mich hören?«
    Ich bejahte.
    »Du musst jetzt ganz tief einatmen«, erklärte er. »Wenn du aufwachst, kannst du so viel Eis essen, wie du willst.«
    Er drückte mir etwas aufs Gesicht. In meiner Erinnerung sieht es aus wie ein Außenbordmotor. Ich atmete tief ein, und alles wurde schwarz. Als ich aufwachte, durfte ich tatsächlich so viel Eis essen, wie ich wollte. Aber das war ein Witz, denn ich wollte gar keins. Mein Hals fühlte sich dick und geschwollen an. Aber es war besser als die alte Nummer mit der Nadel im Ohr. O ja. Alles wäre besser gewesen als die Nummer mit der Nadel im Ohr. Nehmt mir meinetwegen die Mandeln heraus, schraubt mir einen Vogelkäfig aus Stahl ans Bein, wenn es denn sein muss, aber Gott bewahre mich vor dem Otiologen.

7
     
    In dem Jahr kam mein Bruder David in die vierte Klasse, und ich wurde ganz aus der Schule genommen. Ich hätte in der ersten Klasse zu viel verpasst, meinten meine Mutter und die Lehrer einhellig. Im Herbst sollte ich noch einmal von vorn anfangen, wenn meine Gesundheit es erlaubte.
    Dieses Jahr verbrachte ich größtenteils im Bett oder ans Haus gefesselt. Ich las mich durch ungefähr sechs Tonnen Comics und machte weiter mit Tom Swift und Dave Dawson (ein heroischer Pilot aus dem Zweiten Weltkrieg, dessen verschiedene Flugzeuge sich immer ›in die Höhe emporschraubten‹). Danach waren Jack Londons gruselige Tiergeschichten an der Reihe. Irgendwann fing ich an, selbst zu schreiben. Doch vor dem eigenen Schaffen stand das Imitieren. Den Comic Combat Casey pinnte ich Wort für Wort in meinen Blue-Horse-Block ab und fügte manchmal meine
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