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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Autoren: Oskar Maria Graf
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ein Wunder. Derart verbissen, ja besessen hing er an diesem peinigenden Glauben, daß ihn die zwingende Not seiner Familie gleichgültig ließ. Oft trieb er die hungrigen Kinder in aller Frühe bei kältestem Winter aus den Betten, gab ihnen die letzten Kreuzer und schickte sie zum Bezirksort Starnberg, um ein Los, dessen Nummer er geträumt hatte, zu holen. Er war abergläubisch und erbarmungslos und duldete keinen Widerspruch. Das Jammern der Seinen beirrte ihn nicht, es machte ihn nur gereizt. Sackgrob wurde er zuguterletzt, und sein Jähzorn war gefährlich.
    »Ah! Red nicht! Was interessiert mich dein Unsinn!« fuhr der Stellmacher den Peter an und gab ihm den Brief. »Da, der Maxl schreibt: Krieg gibt’s! Er muß mit.« Auch der Andreas schaute wieder ernst drein.
    »Krieg? Krieg?! Gegen wen? Gegen die Prussiens?! – Krieg?!!« schrie der Peter wie elektrisiert und las den Brief nicht. Im Nu war er verändert. »Krieg!!« schrie er erneut und wie beseligt. »Attacken und Bataillen gegen diese gottverfluchten Muschkotenschädel! Krieg! Grandios!« Seine Augen blitzten. Sein Gesicht wurde frischrot, als sei er zwanzig. Noch vor etlichen Jahren, anno 66, hatte er mitgewollt gegen die verhaßten Preußen. Er reckte sich.
    »Revanche! Endlich Revanche diesen Kartoffelschädeln!« brüllte er, reckte die Fäuste, fuchtelte und machte einen kurzen Sprung. »Krieg! Krieg! … Endlich besinnt sich Bavarski! Krieg mit Feuer und Schwert gegen das Pack! Attacken! Bataillen! Bravo! Respekt! Respekt!« Mittenhinein aber sagte der Stellmacher trocken: »Nicht gegen die Preußen! Gegen die Franzosen soll’s gehen, verrückter Stier, verrückter!«
    »Wa-was?« stockte der Peter und riß seine hitzigen Augen weit auf. »Wasss? Und …« – ». . . unser König macht mit«, ergänzte der Stellmacher und fuhr fort: »Er geht mit den Preußen … der Maxl schreibt’s.« Bleich, erregt und kopfschüttelnd begann der Peter den Brief zu lesen und bekam ein immer enttäuschteres Gesicht.
    »Mon dieu! Mon dieu!« stotterte er schmerzlich aus sich heraus, wurde benommen und griff sich an den massigen Kopf. »Mon dieu! Verrückt, glatt verrückt ist die Welt! Wie kann einer mit den beschissenen Prussiens gegen die grande armée gehen! Mon dieu! Mon dieu, die macht doch heut noch mit allen tabula rasa, wenn’s sein muß! Mon dieu! Mon dieu!« Er hatte einen traurigen Blick. Da stand er wie ein Mensch, den man unverdienterweise schwer beleidigt hat und der nun nicht gleich weiß, was er tun soll.
    »Die Welt ändert sich eben! Und was die Großen tun, muß uns recht sein!« warf der Andreas hin.
    »Mon dieu! Mon dieu! Armer Maxl!« rief der Peter wehmütig. Er starrte abwesend in die Leere.
    Der Maxl, der älteste der Stellmachersöhne, stand jetzt im vierundzwanzigsten Lebensjahr und war schon lange in der Fremde. In München hatte er das Bäckerhandwerk erlernt und sich als Gehilfe auf die Wanderschaft begeben. Manchmal schickte er ein wenig Geld. Sein Brief kam aus Germersheim, einer damals befestigten Stadt an der badisch-pfälzischen Grenze. Dort war er vor einiger Zeit zum Militär eingezogen worden.
    »Heißen tut es, wir kommen bald fort. Sehen kann ich Euch nicht mehr, liebe Eltern und Geschwister, aber hoffen wir das beste«, lautete ein Satz in seinem Brief.
    »Nicht einen Schuß ist dieser muschkotische Bismarck wert! Nicht einen!« stieß der schwarze Peter wütend heraus, als er gelesen hatte, und war immer noch fassungslos. »Die grande armée hat doch wieder einen Napoleon! Ach, ich seh’ schwarz! Hmhm, nicht zu verstehn ist dieses ganze Gevölke bei uns! Zuerst verdrischt sie dieser Bismarck nach Strich und Faden, dann seift er sie ein wie ein lumpiger Roßhändler! Und jetzt gehn sie für ihn in die Bataille! Pfui Teufel! Fi donc!« Er machte eine rasche Wendung, spuckte aus, schüttelte sich wie von einem Ekel erfaßt und stampfte aus der Werkstatt …

Ein ungelöstes Rätsel
    In Berg war es schon eine ganze Woche lang sonderbar rege zugegangen. Viel zahlreicher als bisher, bei Tag und bei Nacht, sprengten berittene königliche Kuriere dorfein- und dorfauswärts. Sie grüßten kaum noch und hatten, soweit sich das in der Geschwindigkeit erkennen ließ, ernste, verwichtigte Mienen. Mit verhängten Zügeln, in wildem Galopp jagten sie dahin, daß die Leute erschrocken auswichen. Ihre Pferde schäumten und dampften, und wenn die klappernden, eisenbeschlagenen Hufe auf einen Stein schlugen, blitzten winzige
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