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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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müssen, nur noch laut ausrief: »Schon gut, schon gut, jetzt bist du ja hier.«
    Ihr Appetit, von dem sie schon befürchtet hatte, dass sie ihn nach der verheerenden Überfahrt – kein von Menschenhand zubereitetes Essen konnte lange genug in ihrem Magen verbleiben, um sie mit der erforderlichen Nahrung zu versorgen – nie mehr verspüren würde, kehrte nunmehr zurück. Und war frisch und auf Neues bedacht. So fand sie, die Mango sei die leckerste aller Früchte – saftig und süß. Zwar hatte sie den Geschmack eines Pfirsichs, der in Terpentin getaucht worden ist, und ein so faseriges Fruchtfleisch, dass sie noch Stunden danach die Fädchen, die sich in ihren Zähnen verfangen hatten, herauspulen musste, aber sie war keine schüchterne Person, die Angst davor hatte, neue Erfahrungen zu machen. Und die Konfitüren waren einfach köstlich. Jedermann weiß, dass Konfitüren von den Westindischen Inseln die besten in der Welt sind. Guave, Ingwer, Sauerampfer, ja sogar grüne Limetten. Die schmackhaftesten, die sie je gekostet habe.
    »Bald wirst du Erdbeermarmelade aus England vorziehen, wie wir alle hier«, sagte ihr Bruder.
    »Niemals, niemals, niemals!«, lachte Caroline. »Können wir Punsch trinken?«, fragte sie, und als man ihr antwortete: »Den trinkt man hier nicht mehr oft«, stampfte sie mit dem Fuß auf, der in einem rosa Satinpantöffelchen steckte, und protestierte: »Warum denn nicht?«
    »Ist aus der Mode gekommen«, sagte ihr Bruder und bereute seine Erklärung fast sofort, denn mit erhobener Stimme, schrill
wie das quietschende Scharnier an einem losen Fensterladen, sagte sie: »Warum sollten wir uns um die Mode kümmern? In England redet jeder von jamaikanischem Punsch, und ich möchte ihn probieren. Außerdem ist hier das Verhältnis von Rum zu Wasser nicht stark genug.«
    Als ihr Bruder sah, wie sie sich mit ihren feisten, klebrigen Fingern zu fast allen Stunden des Tages Granatäpfel, Papaus, Sapotillen und Annonen in den Mund stopfte, warnte er sie: »Du isst zu viel Obst, Caroline. In diesem Klima ist das der Konstitution nicht zuträglich.« Stattdessen schlug er ihr vor, mehr Schweinefleisch essen, bis sie nach ihrer Überfahrt wieder ein wenig zu Kräften gekommen sei.
    »Schweinefleisch! Ach, John, Schweinefleisch kann man doch überall essen«, zwitscherte seine Schwester. Nein, sagte sie, in ein oder zwei Tagen sei sie vielleicht bereit, ein wenig Schildkröte zu probieren. Warum auch nicht? Die sahen so entzückend aus, wenn sie in ihrem umgedrehten Panzer serviert wurden. Und aß sie zu Hause nicht auch Kaninchen, Kutteln und Schweinskopf? Sie sagte zu ihrem Bruder: »Wenn Schildkröten in diesem fremden Land als Delikatesse angesehen werden, muss ich davon kosten, und sei es nur ein Mal.« Sie wolle alles probieren – o ja, alles. Obwohl sie ihre Witwenkleidung noch nicht lange abgelegt hatte, begeisterte sie sich für alle Sonderbarkeiten, wer immer ihr davon abraten mochte. Man tischte Ente, Perlhühner und Stachelmakrelen auf, denn Mrs Caroline Mortimer war ganz erpicht darauf, an Knochen und Gräten zu knabbern. Selbst Brotfrüchte, die für den Tisch der Sklaven bestimmt waren. »Warum sollte ich nicht auch die versuchen?«, fragte sie ihren Bruder, der sie streng zurechtwies, einige seiner Sklaven seien dafür ausgepeitscht worden, dass sie Schmutz gegessen hatten – ob sie etwa die Absicht habe, auch diese Delikatesse zu kosten?
    Caroline war mit einer langen, spitzen Nase gesegnet, die, obwohl sie ihrer Silhouette in einem schwach beleuchteten
Raum eine feine Würde verlieh, nicht in der Lage war, zu spüren, was an ihrer Spitze geschah. Folglich blieb an ihrem Ende häufig etwas haften, dessen sich Caroline gar nicht inne war: ein gelber Fleck von den Pollen des Hibiskus, den sie bewundert hatte; ein weißer Sahnetupfer von der Milch, die sie getrunken hatte; selbst ein Tropfen Schnodder von einer Erkältung konnte eine ganze Zeit lang baumelnd und schlenkernd daran hängen bleiben wie ein Regentropfen an einer Blattspitze. Und von dieser unempfindlichen Nase befürchtete ihr Bruder, dass sie sie über kurz oder lang in alles, was auf dieser Plantage mit Namen Amity vor sich ging, hineinstecken würde.
    Aber es gab da eine Sonderbarkeit, bei der Caroline Mortimer eine für sie ganz uncharakteristische Zurückhaltung an den Tag legte: die Neger. Bevor sie sich auf die Reise begeben hatte, hatte ihr Bruder ihr geschrieben und geraten, auf alle Fälle ein Dienstmädchen
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