Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
Vom Netzwerk:
suchte er Julys Gesicht nervös nach einer Antwort ab. Da beugte sich July auf ihrem Sessel zur Seite, und wie zur Antwort erbrach sie die fette Milch, die in einer Lache aus Käse und Molke auf den gewachsten Fußboden spritzte.
    Doch mein geliebter Sohn Thomas Kinsman betrachtete mich freundlich. Warum, habe ich nie wirklich verstanden.
    Aber von jenem Tag an bis heute habe ich im Haushalt meines Sohns gelebt. Unser erstes Zuhause war das Haus in Falmouth, wo Lillian, die junge Frau meines Sohnes, sich mit der Betriebsamkeit einer Umstandskrämerin um ihren Mann und um mich kümmerte. Dort wurden die drei Mädchen Louise, Corinne und May geboren – und unversehens war jeder friedliche Tag unseres Lebens in ein lärmendes Durcheinander verwandelt.
    Indes, schon bald begann die Stadt Falmouth zu verblühen. Denn der Zucker, der den Hafen fütterte und mästete, verlor mit jedem Jahr an Bedeutung. Allmählich verhungerte die Stadt. Daher zog Thomas Kinsman mit uns – seiner geliebten Familie – nach Kingston um, wo er eine neue Druckerei eröffnete. Und auch diese ist sehr profitabel. Aber verlass dich nicht auf mein Wort, geh und frag meinen Sohn – er wird dich, wenn du möchtest, mit Freuden durch seine schöne Werkstatt führen.
    Für mich jedoch, geneigter Leser, ist meine Geschichte jetzt endlich zu Ende. Das lange Lied eines Lebens ist verklungen. So lass mich nun den Schlusspunkt setzen …
    Geneigter Leser, leider ist mein Sohn doch noch nicht mit mir fertig. Muss eine alte Frau das wirklich erdulden? Thomas Kinsman schüttelt schon wieder den Kopf. Nein, sagt er, damit werde meine Geschichte doch wohl nicht enden? Was denn mit dem Leben sei, das July auf der Schwemmebene von Amity geführt habe? Er möchte mehr über die Jahre wissen, die zwischen dem Diebstahl von Julys Wurm und dem Tag liegen, da sie ausgehungert in den Gerichtssaal schlurfte.

    Also habe ich ihn eben gefragt: »Willst du etwa, dass ich schildere, wie July losgezogen ist, um jene Neger in der Schwemmebene zu suchen? Wie sie vor ihnen zusammenbrach und liebevoll gesund gepflegt wurde? Muss ich dir die Scherereien beschreiben, die die freigelassenen Neger über sich ergehen lassen mussten? Soll mein Leser die Angst vor den Schikanen der Plantagenbesitzer verspüren, die den Ort fast täglich attackierten? Sollen wir die Feuer löschen, die Hütten wieder aufbauen, berittene Weiße von den Feldern vertreiben? Möchtest du dich wirklich mit Machete und Hacke einer geladenen Pistole gegenübersehen? Oder soll ich meine Leser vielleicht darüber aufklären, wie lange ein kleines Stück Land überdauern kann, bis es, leblos und erschöpft, nichts weiter als Disteln hervorbringt? Soll ich die Erde beben und die Fluten strömen lassen? Oder sollen wir eine Dürrezeit aussitzen – vertrocknet und verstaubt wie die verdorrte Erde selbst? Oder spüren, wie eine Faust sich in einen knurrenden Magen drückt, damit er glaubt, er sei voll? Muss ich hübsche Worte finden, um das Gelbfieber zu beschreiben, das so viele Opfer forderte? Oder hast du vielleicht den Wunsch, einfach zuzusehen, wie eine große Grube für die Leichen ausgehoben wird?«
    All dies habe ich meinen Sohn gefragt, und weißt du, was Thomas Kinsman geantwortet hat? »Ja, Mutter, ja. Das alles müssen wir wissen.«
    Aber warum muss ich mich mit Kummer abgeben? Julys Geschichte wird das glücklichste Ende haben, verlass dich auf mein Wort. Vielleicht, habe ich meinem Sohn gesagt, vielleicht werden eines Tages andere kommen, die die Chronik jener Zeit fortschreiben wollen. Ich aber bin eine alte, alte Frau. Und außerdem, geneigter Leser, habe ich keine Tinte mehr.

NACHWORT
    Ich hoffe, man sieht mir diesen weiteren Eingriff in die Geschichte meiner Mutter nach. Obwohl die Erzählung dieser guten Frau nun zu Ende ist, hat sie mich, ihren Sohn, mit einem Dilemma zurückgelassen, bei dessen Bewältigung mir die Leser dieses Buches, wie ich hoffe, beistehen werden.
    Sie werden sich an die Geschichte von dem zweiten Kind erinnern, das im Lauf der gewissenhaften Erzählung meiner Mutter der Figur July geboren wurde. Nun wird ein aufmerksamer Leser dieser Seiten begriffen haben, dass die Erzählung meiner Mutter, wiewohl sie vorgibt, reine Erfindung zu sein, getreu ihren tatsächlichen Lebensumständen folgt. Daher ist Emily, das Kind, das July geboren wurde, in Wahrheit die Tochter, der meine liebe Mutter selbst das Leben geschenkt hat. Emily Goodwin ist meine Halbschwester.
    Doch von Emily
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher