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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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Festhalten!« Schon bald zeigte sich ein weiteres Huhn, welches das Mädchen zu jagen schien. Die drei Negerfrauen beteiligten sich unverzüglich an diesem Gewimmel, und alles rannte wild durcheinander, bis niemand mehr wusste, wer hier wen verfolgte.
    Caroline presste sich sogleich an die Wand, denn sie fürchtete, in diesem Tumult zu stolpern und zu Boden zu fallen. Dann tauchten von wer weiß woher zwei kaum bekleidete Jungen auf, um bei diesem Zeitvertreib mit umherzutollen. Auf einmal hörte man einen spitzen Schrei, markerschütternd wie
ein zersplitternder Baumstamm: »Mein Huhn is’ weg! Bringt’s zurück!« Eine Negerfrau erschien, nicht größer als ein Kind, aber mit einer Haut, die so runzlig war wie Dörrobst, und hämmerte mit einem großen Hackebeil gegen einen Blecheimer. Hätte sie nicht immer wieder gekreischt: »Wo is’ mein Huhn hin?«, Caroline hätte kaum glauben mögen, dass ein so winziges Geschöpf ein solches Gebrüll veranstalten konnte.
    Bald sah Caroline nur noch Neger vor sich, die sie wie körperhafte Schatten umtanzten. Oh, wie viele belagerten sie dort? Und wo waren sie alle hergekommen? Aus den Ritzen in der Wand, aus den Löchern im Boden? Lebten sie aufeinandergestapelt in einer Truhe? Oder huschten sie wie Gallwespenschleichen unter dem Haus entlang? Wo nur? Wo? Caroline verfluchte die Tatsache, dass der Herrgott ihr nur zwei Hände gegeben hatte. Denn was sollte sie tun – sich vor dem verhängnisvollen Krach die Ohren zuhalten oder lieber doch die Nase? Denn der Gestank der dahinwirbelnden Körper war so übelriechend wie der eines verdreckten Maultiers in der Hitze.
    Als endlich ihr Bruder auftauchte, schien er den Trubel zu durchschreiten, ohne ihm die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. »Komm, ich bringe dich auf dein Zimmer«, sagte er. Dann, als er die Furcht bemerkte, die seiner Schwester im Gesicht stand, als sei sie als lustige Karikatur gezeichnet, schrie er: » Wollt ihr wohl Ruhe geben! Gebt Ruhe! Hört ihr?«, bevor er Caroline am Ellenbogen fasste und durch eine flüchtige Lücke im Getümmel hinausgeleitete.
    Nach ein paar Tagen auf der Insel fühlte Caroline sich bemüßigt, ihren Bruder zu fragen, ob seine sagenhaften Sklaven, über zweihundert an der Zahl, etwa alle um sie herum im Herrenhaus wohnten. Ihr Bruder hatte die Frage nicht ernst genommen und ihr daher, bis auf ein angedeutetes Grinsen, keine Antwort erteilt. Aber Caroline hatte die Frage ernst gemeint. Denn in
der mächtigen Villa schien es keinen Winkel zu geben, wo man Einsamkeit finden konnte. Keine Ecke, in der sie nicht einen Neger herumlungern sah. Kein Zimmer, in dem nicht ein Neger saß und Arbeit vortäuschte. Kein Fenster, das nicht, wenn man hinausblickte, einen von diesen Schwarzen zeigte, der irgendeinen Unfug trieb. Selbst die Schränke, wenn man sie öffnete, schienen kaum mehr zu enthalten als kleine schwarze Jungen, die sie anglotzten wie in einer Falle gefangene Insekten.
    Und obwohl alle diese Haussklaven jeden Tag um sie herumwuselten, fand Caroline es eine beschwerliche Aufgabe, und eine, für die sie kein Geschick aufbrachte, auch nur einen von ihnen herbeizurufen, damit er ihren Anordnungen Folge leistete. Sie starrten sie immer nur verzückt an wie Kinder vor dem Freudenfeuer am fünften November, bevor das Feuerrad sich zu drehen beginnt.
    Das Negermädchen Molly, die mit dem blutunterlaufenen, geschwollenen Auge, wurde von Carolines Bruder beauftragt, vorübergehend als deren Zofe einzuspringen. Und etwas anderes als springen tat sie nicht. Denn dieses Mädchen schien von den Pflichten, die ihr aufgetragen wurden, nichts zu verstehen. Jeden Morgen versuchte das einfältige Geschöpf, Caroline verkehrt herum in ihren gepunkteten Leinenspenzer hineinzuzwängen; kein Befehl in englischer Sprache, den Caroline aussprach, konnte die Sklavin dazu bewegen, ihn auf die richtige Art über die Schultern zu ziehen. Und was die Bänder an ihrem Rocksaum anging, so spielte das Mädchen mit ihnen herum wie ein junges Kätzchen mit einem Wollknäuel, denn sie war außerstande, auch nur einen einfachen Knoten zu binden, geschweige denn eine hübsche Schleife.
    Sie kämmte ihr die Haare, als müsse sie widerspenstige Fransen an einem Teppichrand entwirren, und schüttete einen mit kaltem Wasser gefüllten Eimer über Caroline aus, die nackt in der Badewanne saß und glaubte, ihr würde gleich warmes Wasser gebracht. Als Caroline ihren Bruder rief, um sich gegen
dieses Benehmen zu
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