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Das Knochenhaus

Das Knochenhaus

Titel: Das Knochenhaus
Autoren: Stephen Lawhead
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– der eine im Rinnstein, der andere auf dem Fußgängerweg. Ihre Umgebung nahmen sie überhaupt nicht wahr, während sie singend nach Hause torkelten; offenbar kamen sie von einer Abendfeier.
    Zufrieden schlich er in eine Gasse hinein und hastete zielsicher durch die Dunkelheit zur Rückseite eines Stadthauses, das sich hinter dem Museum befand. Dort, auf dem Weg neben dem Haus, lag die Holzleiter. Er packte sie, lehnte sie gegen das hohe Eisengeländer, stieg auf die Spitze der Umzäunung, balancierte kurz auf der obersten Gitterstange, während er die Leiter auf die andere Seite hievte, und kletterte auf den Sprossen nach unten: All das führte er mit großer Schnelligkeit und Geschicklichkeit aus. Sobald er wieder Boden unter den Füßen hatte, eilte er zum Fenster, das der Ecke des riesigen Gebäudes am nächsten war. Selbst die niedrigsten Fenster lagen hier acht Fuß über dem Erdboden, und so musste er auch hier die Leiter anlehnen. Er kletterte hoch und klopfte gegen das Glas. Nachdem er bis zehn gezählt hatte, pochte er erneut dagegen.
    Nach dem zweiten Klopfer wurde das Fenster von innen geöffnet. Ein ernstes, bleiches Gesicht, das so rund wie ein kleiner Mond war, tauchte in der finsteren Öffnung auf.
    »Gut gemacht, Snipe«, lobte Douglas. »Hilf mir mit deinen Händen hinein!«
    Der stämmige Junge streckte seine Hände aus und zog mit den starken Armen seinen Dienstherrn durch das offene Fenster.
    »Wohlan«, sagte Douglas und zog eine kleine Dose aus der Tasche. Er klappte den Deckel auf und schüttelte ein paar Tunkzündhölzer heraus. Nachdem er eines davon ausgewählt hatte, zog er den Kopf des Hölzchens über die geraute Oberseite der Dose. Der schmale Stab aus weichem Kiefernholz entlud sich mit einem Knall und einer zischenden roten Flamme. »Die Laterne, Snipe.«
    Der halbwüchsige Junge hielt eine Petroleumlampe hoch. Douglas hob das Glas nach oben und berührte mit dem Tunkzündholz den Docht. Dann senkte er das Glas und fuchtelte mit dem benutzten Stäbchen durch die Luft, damit es abkühlte, bevor er es wieder in die Dose zurücklegte. »Und jetzt lass uns mit unserer Arbeit beginnen.«
    Im Schein der Laterne gingen sie zwischen den düsteren Bibliotheksregalen des Smirke Bequest hindurch – eines kleinen Raums, der von der höhlenartigen Halle des Lesesaals abzweigte. Diese gemütliche Kammer war bestimmt für besondere, außergewöhnliche Bände aus den Bibliotheken reicher Mäzene, die ihre Sammlungen zum allgemeinen Wohle ihrer Mitmenschen dem Nationalarchiv gespendet oder hinterlassen hatten. Diese ständig wachsende Büchersammlung beherbergte einen ganz besonderen Band, der seit Langem Douglas Flinders-Petrie versagt geblieben war. Wegen dieses Buches war er hergekommen – um es sich anzueignen.
    Diese Kammer, die unter der Bezeichnung »Raum der seltenen Bücher« allgemein bekannter war, durfte mit Ausnahme der angesehensten Gelehrten niemand betreten. Und der Zugang wurde diesem kleinen Kreis auch nur dann gewährt, wenn der Leiter der Antikenabteilung oder einer seiner Assistenten den Besucher begleitete. In einem solchen Fall schloss der Museumsmitarbeiter die Kette am Eingang auf – es gab keine Tür, sodass die Bücher aus der Distanz betrachtet werden konnten, auch wenn man sie nicht studieren durfte – und führte dann den Auserwählten in das Innere des Allerheiligsten. Die ganze Zeit über mussten in diesem Raum weiße Baumwollhandschuhe getragen werden, und niemandem war es erlaubt, zu irgendeiner Zeit sich alleine zwischen den Bibliotheksregalen aufzuhalten. Douglas, der dieses peinlich genau eingehaltene Protokoll bei seinen Erkundungstouren beobachtet hatte, war zu dem Entschluss gelangt, auf diese Formalitäten zu verzichten und den Raum außerhalb der allgemeinen Öffnungszeiten aufzusuchen.
    Es hatte sich dann die Aufgabe gestellt, einen geeigneten Ort zu finden, wo Snipe sich eine ganze Zeit nach Schließung des Museums würde verstecken können. Für diesen Zweck hatte sich ein Archivschrank im Raum 55 auf der oberen Etage als passend erwiesen. Und so hatte Douglas spätnachmittags, während einer Besichtigung von Alabaster-Exponaten aus Ninive, seinen begabten Diener mit einer kalten Pastete und einem Apfel in dem Wandschrank untergebracht und ihm aufgetragen zu warten, bis die Turmuhr von Saint Bartholomew elf Mal schlagen würde. Zur vereinbarten Stunde war Snipe aus seinem Versteck gekrochen und nach unten in den Raum der seltenen Bücher geschlichen,
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