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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Meeresküste bis hinauf zur Hügelregion, die auf ihrer obersten Kuppe von einem mächtigen Kastell gekrönt wird. In der Oberstadt leben die meisten Einwohner. In kleinen, steil hinauf bis zur Höhe hin ansteigenden, sehr schmalen und labyrinthisch angelegten Gassen, in denen man sich fast nur zu Fuß bewegt und sich als Fremder leicht verirrt, haben sie ihr Zuhause. In der Mittelstadt führt die breite Hauptstraße mit ihren Läden, Cafés, Pasticcerien und Restaurants um die große Piazza mit dem barocken Dom herum und bildet so das eigentliche Zentrum, während die Unterstadt aus einer Hafenregion mit kleinen Hotels und bis in die tiefe Nacht frequentierten Fischlokalen besteht.

    Eine ähnlich vielfältige und interessante Topographie gibt es in Sizilien nur selten. In Mandlica kann man in der Stille der Oberstadt wohnen, sich im lebhaften Trubel der Mittelstadt tagsüber mit den Einheimischen unterhalten und in der Hafenstadt den Abend und die Nacht bei gutem Essen und noch besserem sizilianischen
Wein ausklingen lassen. Genau diese Art Leben habe ich während meiner beiden ersten Aufenthalte auch zu führen versucht, bin damals allerdings noch an meiner Unfähigkeit, Kontakte zu knüpfen, gescheitert. So kam ich über ein einsames Leben in der Oberstadt, einsame Spaziergänge ohne Begegnungen mit den Einheimischen in der Mittelstadt und einsame Nächte am Meer in überfüllten Fischlokalen der Unterstadt, unterhalten lediglich von ein paar Zeitungen und Büchern, nicht hinaus.

    Wenn ich nicht als Ethnologe im Einsatz und dadurch geradezu gezwungen bin, mich mit den Menschen meiner Umgebung zu unterhalten, verharre ich nämlich leider Gottes nicht selten in einem mir selbst verhassten Einzelgängertum, dessen ruhige Zurückhaltung ich in solchen Daseinsmomenten mir selbst gegenüber fälschlicherweise als einen besonderen Genuss deklariere und preise. Ich mache mir dann nur zu gerne vor, dass ein allein eingenommenes Abendessen mir besser gefällt und erheblich mehr zusagt als ein verschwatztes und mit zehn unruhigen und meist sehr abgelenkten Personen geteiltes. Und ich sitze kurz vor Mitternacht nicht selten, scheinbar übertrieben glücklich summend, am letzten noch besetzten Tisch des Lokals und tue so, als hätte ich in der Begleitung meiner Bücher und Zeitungen einen fantastischen, unterhaltsamen Abend erlebt.

    Bin ich aber mit meinen ethnologischen Studien beschäftigt, so sind die Unterhaltungen mit den Einheimischen, die mir sonst sehr schwerfallen und fast immer eine Last für mich sind, gut vorbereitet. Ich habe mir die Fragen,
die ich stellen werde, genau überlegt, und ich gerate mit jeder Frage und jeder auch nur halbwegs interessanten Antwort weiter in Form und in Schwung. Unangenehm ist es nur, wenn ich in solchen Situationen dann selbst etwas gefragt werde. Eine solche Gegenfrage verstößt gegen die Regeln des ethnologischen Forschungsgesprächs und sorgt dann meist für ein peinliches Schweigen von meiner Seite oder sogar für den gänzlichen Abbruch des Gesprächs. Ich gerate ins Schwitzen, denn ich möchte keineswegs als Privatmensch, sondern ausschließlich als Forscher betrachtet und auch behandelt werden.

    Als Forscher frage und erkundige ich mich leidenschaftlich, als ginge es um mein Leben. Mein eigenes Leben dagegen darf nicht zum Thema werden, denn es soll höchstens für mich, nicht aber für die Befragten von Interesse sein. So jedenfalls schreibt es der ethnologische Kodex vor, der ausdrücklich festlegt, dass ein guter und zurückhaltender Ethnologe sich selbst unbedingt aus dem Spiel des Fragens und Antwortens herauszunehmen hat. Sein Leben und Dasein ist nicht von Belang, um der exakten Forschung willen ist er lediglich Übersetzer, Verstärker und Interpret all der Texte, die ihm von außen angeboten werden.

    Während der Anfahrt auf Mandlica erinnere ich mich an meine verpatzten ersten beiden Aufenthalte, summe aber dennoch leise vor mich hin, als sei ich sicher, wegen meiner diesmal monatelangen, intensiven Vorbereitungen auf die Gespräche in dieser Stadt erheblich mehr Erfolg zu haben. Als ich von der Küstenstraße abbiege
und schließlich auf Mandlica zufahre, gerate ich sogar in eine regelrecht euphorische Stimmung. Ich habe eine CD mit den Canti della Sicilia der großen sizilianischen Sängerin Rosa Balistreri eingelegt, ich lasse alle Fenster meines durchgeschüttelten Fiats herunter und höre zu, wie Rosas raues und tiefes Schluchzen sich wie eine
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