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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Desserts, für die es im Italienischen den schönen, klingenden Namen Dolci gibt, sehr bekannt und berühmt ist. Fast alle Familien dieses Ortes sind nämlich in irgendeiner Weise mit der Herstellung solcher Dolci beschäftigt, mit Schokolade und Marzipan, mit Eis und Gebäck, mit Kuchen, Bonbons und dunkelfarbigem Fruchtsirup, den man über zerstoßenes Eis gießt. Um gute Fragen zu stellen, habe ich über diese geheim gehaltenen Künste viel gelesen, doch geht es mir nicht in erster Linie darum, über diese von Generation zu Generation vererbten Geheimnisse mehr zu erfahren. Mein eigentliches Ziel ist es vielmehr, die Einwohner dieses Ortes so zum Sprechen zu bringen, dass ich von den noch tiefer liegenden Geheimnissen des Ortes etwas erfahre. Diese Geheimnisse betreffen das innerste Leben und Fühlen der Menschen und die Art und Weise, wie sie auf den Tiefenschichten dieser Geheimnisse ihr Leben und ihre Welt eingerichtet haben. Stufe für Stufe will ich fragend bis zu diesen Schichten hin vordringen, und beginnen werde ich diese Tiefenbohrungen mit ein paar wenigen, sehr einfachen Fragen: Leben Sie gerne hier? Wo halten Sie sich am liebsten auf? Warum hier, im kleineren Café auf der Piazza – und nicht drüben, im größeren?

2
    A LS ICH meinen Koffer und das weitere Gepäck endlich von den Laufbändern gefischt habe, gehe ich damit nach draußen, vor das Flughafengebäude, wo bereits eine Unmenge von Taxen und Bussen auf die Fluggäste wartet. Ich bleibe stehen und genieße die Wärme, nirgendwo in Europa ist es jetzt, im April, so angenehm warm, und nirgendwo blüht jetzt bereits so wie hier das ganze Land, bunt und farbensatt, als hätte ein leicht überdrehter Maler in der Tradition eines Spätexpressionismus die Farben mit einem breiten Pinsel auf eine erdockerfarbene Leinwand aufgetragen.

    Einige Taxifahrer wollen mich in ihren Wagen locken, sie kommen zu mir und fragen mich nach meinem Ziel und machen einladende Bewegungen. Ich mag dieses Fragen, ich mag es schon aus beruflichen Gründen, denn es ist meist sehr interessant, wie und mit welchem Vokabular Menschen etwas fragen – aber ich bin vom Flug und seinen Begleiterscheinungen noch so befangen, dass ich nur stumm den Kopf schüttele. Nach einer Weile schiebe ich den kleinen Wagen mit meinem Gepäck hinüber zu den Mietwagenzentralen, wo sich bereits lange Schlangen von Wartenden gebildet haben. Am Ende einer dieser Schlangen stelle ich mich an und höre zu, wie die meist deutschen Reisenden rekapitulieren, was sie die Angestellten der Mietwagenbüros gleich fragen werden. Viele befürchten, auf irgendeine Weise betrogen zu werden, deshalb gehen sie noch einmal rasch die Verträge
durch, die sie bereits in Deutschland per Internet geschlossen haben: Autofabrikat, PS-Zahl, Kilometerstand, Zustand des Wagens, Reifen-und Ölkontrolle, auf alles wollen sie achten.

    Als ich selbst an der Reihe bin, lege ich ebenfalls den Vertrag vor, den ich bereits in Deutschland geschlossen habe. Der Angestellte schaut mich kurz an und beginnt auf Englisch zu sprechen, ich sage ihm aber sofort, dass er Italienisch mit mir sprechen könne. Er schaut mich etwas länger an und lächelt, dann stellt er, wie ich erwartet habe, erst gar keine Fragen und liest mir nur knapp und prägnant die Daten meines Wagens vor, der draußen auf dem Parkplatz auf mich wartet: Autofabrikat, PS-Zahl, Kilometerstand.

    Das Italienisch-Sprechen erweist sich in diesem Fall sofort als eine Basis für ein Vertrauensverhältnis, es gibt nichts mehr zu fragen oder zu antworten, wir sind beide sozusagen auf ein und derselben Ebene oder auf Augenhöhe . Außerdem erleichtert es unser Gespräch, dass ich nicht wie die meisten anderen deutschen Reisenden ein Fabrikat aus Deutschland ( VW, Opel, Mercedes ), sondern dezidiert einen Fiat für meine Fahrten durch Sizilien bestellt habe. Sie haben einen Fiat bestellt , sagt der Angestellte und nickt, und ich sehe ihm an, dass ich mich seiner italienischen Seele mit dieser Bestellung noch mehr genähert habe.

    Natürlich kann er nicht ahnen, dass mich keineswegs eine besondere Liebe zu italienischen Automarken zu
dieser Bestellung veranlasst hat, sondern vielmehr ein bestimmtes Gesetz meines Berufes als Ethnologe, das mir vorschreibt, mich während meiner Forschungen den Gegebenheiten der Fremde ganz und gar anzupassen. Die kurze Formel für dieses Gesetz lautet Teilnehmende Beobachtung , und sie besagt, dass ein forschender Ethnologe sich den Sitten und
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