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Das Joshua Gen (German Edition)

Das Joshua Gen (German Edition)

Titel: Das Joshua Gen (German Edition)
Autoren: Andreas Krusch
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junge Frau lächelte eigentümlich. »Ich habe gerade meinen Vater umgebracht. Nein, halt, eigentlich ist es genau umgekehrt. Mein Vater hat mich umgebracht. Er tat es schon vor vielen Jahren, wissen Sie ...« Die junge Frau beugte sich nach vorn. »Aber er ließ mich nicht sterben«, flüsterte sie in Vince’ Ohr.
    Ihre Augen im Spiegel fixierten ihn. Die dunkle Leere darin machte ihn schwindlig. So musste es sich anfühlen, nachts an einem Abgrund. Das Taxi schlingerte. Er zwang sich, zurück auf die Straße zu schauen. Doch ihre Augen ließen ihn nicht los. Augen, wie die auf den kahlen Fluren der Anstalt, wie die hinter engen Fenstergittern und zerkratzten Türen. Es waren dunkle Abgründe, in die er damals geblickt hatte. Bis er dann selbst in einen gestürzt war.
    Vince gab Gas. Er musste die Frau loswerden, bevor sie noch mehr schlechte Erinnerungen weckte, bevor sie die Stimme weckte!
    »Hören Sie, ich kann Sie hier nicht ewig herumkutschieren, ich hab noch einen Termin! Also, wo wollen Sie jetzt hin, Miss?!«, fragte er ruppig.
    Sie sank in den Sitz zurück. »Nur weg, einfach nur weg ...«, flüsterte sie kaum hörbar.
    »Oh, so genau wollte ich es gar nicht wissen«, spottete Vince. Er hörte ihr tiefes Durchatmen, riskierte einen raschen Blick in den Rückspiegel. Ihre kurzen, schwarzen Haarsträhnen hingen traurig in ihr blasses Gesicht. Aus der Schminke ihrer Augen lösten sich dunkel zwei Tränen. Schnell wischte die junge Frau sie weg. »Queens. Bringen Sie mich nach Queens.«

    Chosrau blickte auf die große Stadt. Morgennebel hingen an den Zinnen ihrer mächtigen Umfassungsmauer, heraufgezogen vom noch mächtigeren Fluss Euphrates. Doch die Macht von Wasser und Stein war nichts gegen die eines Tuches, das man hier seit Jahrhunderten versteckt hielt. Den Leib eines Gekreuzigten hatte es einst umhüllt. Wer es sein eigen nennen konnte, der vermochte Gott sein eigen zu nennen, hieß es. Als Eikon Acheiropoietos, das nicht durch Menschenhand geschaffene Bild, war es bekannt, und noch heute würde es ihm gehören, Chosrau dem Großen, dem Anführer des persischen Heeres. Seine Männer hatten Edessa des Nachts umstellt, nun rannten sie mit Kriegsmaschinen gegen die Mauern an, spickten die Leiber der Bewohner mit Pfeilen, entfachten unbezähmbare Brände ... Ja, noch heute werde ich das Wundertuch besitzen, dachte Chosrau der Große und lauschte selbstzufrieden dem Brechen der hölzernen Stadttore.

    Die Tür zur Wohnung war nur angelehnt. Er schnappte nach Luft. Er war die baufälligen Treppen hinauf gerannt. Dritter Stock, hatte sie gesagt, es würde nicht lange dauern, hatte sie gesagt. »Hey, Miss Trenchcoat«, rief Vince ungehalten, »wir zwei haben noch eine Rechnung offen!«
    Er hatte im Taxi gewartet. Drei Minuten hatte er ihr gegeben, um das Fahrgeld zu holen, dann noch mal drei. Dann hatte er an seinen Therapeuten gedacht und an einen Aufkleber für dessen hohe Stirn. Wer den Menschen vertraut, der wird von den Menschen verarscht!
    Über der Klingel stand kein Name. Das Schloss war kaputt. Vince schob die Tür weiter auf. Jemand lag im Halbdunkel dahinter. Ein Mann mit Kapuzenpullover. Er lag auf der Seite mitten im Flur und schlief wohl einen Rausch aus. Kleidung und anderer Kram lagen um ihn herum.
    „Na großartig«, fluchte Vince, »eine verdammte Junkie-WG!« Keinen Cent würde er für die Fahrt hierher bekommen! Wieso war er nur auf ihre paar Tränen hereingefallen? Wütend stieß er mit dem Fuß gegen den am Boden Liegenden. »Hey, jetzt wird abkassiert! Glaubst du etwa, ich lass mich von dir und deiner Junkie-Freundin verarschen?! Komm hoch, Mann, ich rede mit dir!«
    Er trat noch zweimal gegen den Körper. Dann sah er genauer hin. Die Lautstärke in seiner Stimme verflog, und auch die Wut. »Verdammte Scheiße ...«, flüsterte er. Jemand hatte ein Loch mitten in die Stirn des Mannes geschossen. Vince brach der Schweiß aus. Genau so was hier hatte seinem verkorksten Leben noch gefehlt. »Okay, ich verschwinde jetzt, Miss«, erklärte er in den langen, halbdunklen Flur. »Vergessen Sie das Taxi. Vergessen Sie mich. Ich hab echt schon genug Ärger am Hals!«
    Er eilte in das Treppenhaus. Von unten kam die Stimme einer alten Frau: »Bleib wo du bist, du gottverfluchter Einbrecher! Keinen Schritt weiter – ich und mein Hund kommen jetzt rauf! Es ist ein deutscher Hund!«
    Sie ließ das Tier kräftig knurren.
    »Großartig«, flüsterte Vince. »Ich liebe Hunde.«
    »Und die Polizei hab
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