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Das hier ist Wasser

Das hier ist Wasser

Titel: Das hier ist Wasser
Autoren: David Foster Wallace
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Sie nicht, ich wollte hier den Moralapostel spielen oder behaupten, Sie »sollten« so denken, oder irgendjemand würde von Ihnen erwarten, automatisch so zu handeln, denn das ist schwer, es kostet Mühe und Selbstüberwindung, und wenn Sie mir ähnlich sind, dann schaffen Sie das an manchen Tagen nicht oder wollen es schlicht und einfach nicht.
    An den meisten Tagen, an denen Sie aufmerksam genug sind und die Wahl haben, können Sie sich aber entscheiden, die fette, bräsige, aufgebrezelte Frau, die in der Supermarktschlange gerade ihr Kind angeschnauzt hat, mit anderen Augen zu sehen – vielleicht ist sie sonst nicht so; vielleicht hat sie gerade drei Nächte lang nicht geschlafen, weil sie ihrem an Knochenkrebs sterbenden Mann die Hand gehalten hat; vielleicht hat genau diese Frau auch den unterbezahlten Job im Straßenverkehrsamt und hat gestern erst Ihrem Mann geholfen, durch einen kleinen Akt bürokratischer Güte einen albtraumhaften Papierkrieg zu beenden.
    Das alles ist natürlich unwahrscheinlich, deswegen aber nicht unmöglich – es hängt nur alles von Ihrer Perspektive ab. Wenn Sie automatisch sicher sind, dass Sie wissen, was Wirklichkeit ist und wer und was wirklich wichtig ist – wenn Sie gemäß Ihrer Standardeinstellung operieren wollen, dann werden Sie wahrscheinlich genauso wenig wie ich über Alternativen nachdenken, die nicht sinnlos sind und nerven. Wenn Sie aber wirklich zu denken gelernt haben und aufmerksam sein können, dann wissen Sie, dass Sie eine Wahl haben. Dann steht es in Ihrer Macht, eine proppenvolle, heiße und träge Konsumhölle als nicht nur sinnvoll, sondern heilig anzusehen, weil sie mit einer Energie geladen ist, die Sterne erschaffen konnte – Anteilnahme und Liebe, die unterschwellige Einheit aller Dinge.
    Nicht dass so ein mystischer Murks unbedingt wahr wäre: Im Vollsinn des Wortes wahr ist nur, dass es Ihre Entscheidung ist, wie Sie die Dinge sehen wollen. Und das, behaupte ich, ist die Freiheit wahrer Bildung, der Selbsterziehung zur Anpassung: Es wird Ihre bewusste Entscheidung, was Sinn hat und was nicht. Sie entscheiden, was Sie glauben …
    Es gibt nämlich noch eine Wahrheit. In den alltäglichen Grabenkämpfen des Erwachsenendaseins gibt es keinen Atheismus. Es gibt keinen Nichtglauben. Jeder betet etwas an. Aber wir können wählen, was wir anbeten. Und es ist ein äußerst einleuchtender Grund, sich dabei für einen Gott oder ein höheres Wesen zu entscheiden – ob das nun Jesusist, Allah, Jahwe, die Wicca-Göttin, die »vier edlen Wahrheiten« oder eine Reihe unantastbarer ethischer Prinzipien –, denn so ziemlich alles andere, was Sie anbeten, frisst Sie bei lebendigem Leib auf.
    Wenn Sie Geld und Güter anbeten – wenn hierin für Sie der wahre Sinn des Lebens liegt –, dann können Sie davon nie genug kriegen. Nie das Gefühl haben, Sie hätten genug. Das ist die Wahrheit.
    Wenn Sie Ihren Körper, die Schönheit und erotische Reize anbeten, dann werden Sie sich immer hässlich finden, und wenn sich Zeit und Alter bemerkbar machen, werden Sie tausend Tode sterben, bevor man Sie dann wirklich unter die Erde bringt.
    Auf einer Ebene kennen wir alle das schon – es liegt in Form von Mythen, Sprichwörtern, Klischees, Binsenweisheiten, Epigrammen und Parabeln kodiert vor: als Skelett jeder großen Erzählung. Knifflig ist nur, sich die Wahrheit im Alltag bewusst zu halten.
    Wenn Sie die Macht anbeten, werden Sie sich schwach und ängstlich fühlen und immer mehr Macht über andere brauchen, um die Angst in Schach zu halten.
    Wenn Sie Ihren Intellekt anbeten und als schlau gelten wollen, werden Sie sich am Ende dumm vorkommen, als Hochstapler, dem man jeden Augenblick auf die Schliche kommen wird.
    Und so weiter.
    Wissen Sie, das Heimtückische an diesen Formen der Anbetung ist nicht, dass sie böse oder sündhaft wären, sondern dass sie so unbewusst sind.
    Sie sind Standardeinstellungen.
    Sie sind Glaubensformen, in die man nach und nach einfach so hineinschlittert, jeden Tag ein bisschen mehr; man wird immer wählerischer bei dem, was man sieht und wieman Wert beurteilt, ohne eigentlich wahrzunehmen, dass man genau das tut. Und die sogenannte »wirkliche Welt« hält einen auch nicht davon ab, gemäß diesen Standardeinstellungen zu operieren, denn die sogenannte »wirkliche Welt« der Männer, des Geldes und der Macht läuft wie geschmiert dank dem Öl aus Angst, Verachtung, Frustration, Gier und Selbstverherrlichung. Unsere heutige Kultur hat der
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