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Das hier ist Wasser

Das hier ist Wasser

Titel: Das hier ist Wasser
Autoren: David Foster Wallace
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Wagen verstauen, dass nicht alles rausfällt und auf der Heimfahrt im Kofferraum herumkullert, und dann müssen Sie den ganzen Weg im zähen Stoßverkehr hinter all den Geländewagen her nach Hause fahren und so weiter und so fort …
    Jeder von Ihnen hat das natürlich schon erlebt – aber bei Ihnen, die heute Ihren Abschluss machen, ist es noch nicht Tag für Woche für Monat für Jahr Teil des Alltagstrotts. Das wird es aber werden, zusammen mit zahllosen anderen trostlosen, nervenden und scheinbar sinnlosen Routinetätigkeiten.
    Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass genau bei diesem banalen, frustrierenden Kleinkram die Arbeit des Entscheidens einsetzt. Denn im Stau, in den verstopften Gängen und in den Schlangen an der Kasse habe ich Zeit nachzudenken, und wenn ich mich nicht bewusst entscheide, woran ich denken und worauf ich achten möchte, werde ich beim Einkaufen jedes Mal sauer und niedergeschlagen sein, weil sich solche Situationen meiner angeborenen Standardeinstellung zufolge alle um mich drehen, um meinen Hunger, meine Erschöpfung und meinen Wunsch, bloß endlich nach Hause zu kommen, und es hat ganz den Anschein, als stünde die ganze Welt mir im Weg, und wer zum Teufel sind diese ganzen Leute, die mir im Weg stehen? Und wie abstoßend die meisten von denen aussehen, und wie dämlich, strohdoof, bräsig und nichtmenschlich sie in der Kassenschlange wirken, oder wie grob und unhöflich es ist, dass sie mitten in der Schlange lauthals in ihre Handys sprechen, und ist das alles vielleicht nicht wahnsinnig ungerecht: Da habe ich mich jetzt den ganzen Tag lang krumm und lahm geschuftet, bin am Verhungern und todmüde, aber wegen all dieser blöden Rindviecher kann ich nicht mal nach Hause, was essen und ausspannen.
    Wenn ich mich in einem sozial bewussteren und geisteswissenschaftlicheren Modus meiner Standardeinstellung befinde, kann ich mich im Feierabendverkehr natürlich auch aufregen über all diese riesigen, hirnrissigen, straßenblockierenden Geländewagen, Hummer und 12-Zylinder-Pickups, aus deren selbstsüchtigen, verschwenderischen 150-Liter-Tanks die Welt mit Abgasen verpestet wird, und ich kann mich eingehend mit der Tatsache befassen, dass die patriotischen oder religiösen Aufkleber grundsätzlich auf den größten, widerlichsten und egoistischsten Fahrzeugen kleben, in denen die hässlichsten, rücksichtslosesten und aggressivsten Fahrer am Steuer sitzen, die üblicherweise an ihren Handys hängen, während sie anderen den Weg abschneiden, bloß um im Stau zehn Meter weiter vorn zu stehen, und ich kann darüber nachdenken, wie unsere Kindeskinder uns verachten werden, weil wir die ganzen Rohstoffe der Zukunft verplempert und das Klima zerstört haben, und wie verwöhnt, hirnverbrannt, selbstsüchtig und ekelhaft wir alle sind, und wie mir das alles stinkt und so weiter und so fort …
    Wissen Sie, wenn ich mich für eine solche Haltung entscheide, kein Problem, die haben ja viele von uns – nur liegt ein solches Denken dermaßen auf der Hand, dass es gar keine Entscheidung sein muss. Ein solches Denken ist meine angeborene Standardeinstellung. Es ist die automatische, unbewusste Haltung, in der ich die langweiligen, frustrierenden und überfüllten Teile des Erwachsenendaseins erlebe, wenn ich auf Autopilot laufe und unbewusst glaube, ich bin der Mittelpunkt der Welt, und meine unmittelbaren Bedürfnisse und Gefühle sollten in der Welt Priorität haben.
    Das Dumme ist bloß, dass man solche Situationen offenbar verschieden sehen kann. Noch mal zum Stau und all den Fahrzeugen im Leerlauf, die mir den Weg versperren: Es ist durchaus denkbar, dass manche dieser SUV – Fahrer irgendwann schreckliche Autounfälle erlebt haben und davon dermaßen traumatisiert sind, dass ihre Therapeuten ihnen geradezu verordnet haben, sich große, schwere SUV s zuzulegen, damit sie sich sicher genug fühlen und fahren können; oder dass der Hummer, der mich gerade ausgebremst hat, von einem Vater gefahren wird, der ein kleines krankes Kind hinter sich sitzen hat, mit dem er so schnell wie möglich ins Krankenhaus rast, und der demnach in weit größerer und legitimerer Eile ist als ich – faktisch bin ich ihm im Weg.
    Ich kann mich auch mit der Wahrscheinlichkeit befassen, dass alle anderen in der Kassenschlange genauso genervt und frustriert sind wie ich und dass manche von ihnen ein insgesamt schwereres, öderes oder leidvolleres Leben führen als ich. Und so weiter.
    Noch einmal: Bitte glauben
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