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Das hier ist Wasser

Das hier ist Wasser

Titel: Das hier ist Wasser
Autoren: David Foster Wallace
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lernen« heißt in Wirklichkeit zu lernen, wie man über das Wie und Was des eigenen Denkens eine gewisse Kontrolle ausübt. Es heißt, selbstbewusst und aufmerksam genug zu sein, um sich zu entschei den, worauf man achtet, und sich zu entscheiden, wie man aus Erfahrungen Sinn konstruiert. Denn wenn Sie als Erwachsene diese Entscheidung nicht treffen wollen oder können, sind Sie angeschmiert.
    Denken Sie mal an das alte Klischee, der Geist sei »ein ausgezeichneter Diener, aber ein schrecklicher Herr«. Oberflächlich betrachtet ist das nur ein weiteres lahmes und banales Klischee, aber auf den zweiten Blick birgt es eine große und schreckliche Wahrheit. Es ist keineswegs Zufall, dass Erwachsene, die mit Schusswaffen Selbstmord begehen, sich fast immer in den Kopf schießen. Und in Wahrheit sind die meisten dieser Selbstmörder eigentlich schon tot, lange bevor sie den Abzug drücken. Und ich behaupte, dass es beim wahren, nicht verscheißernden Wert Ihrer geisteswissenschaftlichen Ausbildung darum gehen sollte: Wie gelingt einem ein angenehmes, gutsituiertes und respektables Erwachsenendasein, ohne dass man tot, gedankenlos und tagein, tagaus ein Sklave des eigenen Kopfes und der angeborenen Standardeinstellung wird, die vorgibt, dass man vor allem total auf sich allein gestellt ist? Das mag sich nach Übertreibung oder abstraktem Stuss anhören. Werden wir also konkret. Es ist eine schlichte Tatsache, dass Sie heute, am Tag Ihres Abschlusses, noch keine blasse Ahnung haben, was »tagein, tagaus« wirklich bedeutet. Über weite Teile des Erwachsenenlebens in Amerika spricht rein zufälligerweise kein Mensch in Abschlussreden. Teilweise besteht dieses Leben nämlich aus Langeweile, Routine und banaler Frustration. Ihre Eltern und die älteren Anwesenden werden nur zu gut wissen, was ich meine.
    Nehmen wir beispielsweise den durchschnittlichen Tag eines Erwachsenen. Sie stehen morgens auf, gehen der anspruchsvollen Schreibtischarbeit eines Akademikers nach, schuften neun oder zehn Stunden lang, und bei Feierabendsind Sie müde und gestresst und wollen nur noch nach Hause, freuen sich auf ein gutes Abendessen, vielleicht noch ein paar Stunden Entspannung, und wollen dann früh in die Falle, weil das Ganze am Tag darauf ja von vorne losgeht. Aber dann fällt Ihnen ein, dass Sie nichts zu essen im Haus haben – wegen Ihrer anspruchsvollen Tätigkeit hatten Sie die ganze Woche noch keine Zeit zum Einkaufen –, also müssen Sie nach Dienstschluss erst mal zum Supermarkt fahren. Sie geraten in den Feierabendverkehr und brauchen weit länger als nötig, und wenn Sie den Supermarkt endlich erreichen, ist er brechend voll, weil natürlich alle Berufstätigen ihre Einkäufe in diese Tageszeit quetschen müssen, und im Laden herrscht dieses scheußliche Neonlicht, überall dudelt diese leidige Kaufhausmusik oder Kommerzpop, und Sie wünschen sich ans andere Ende der Welt, aber mit einer Stippvisite ist es leider nicht getan. Sie müssen durch all die riesigen, grell erleuchteten und verstopften Gänge wandern, bis Sie endlich alles zusammenhaben, und Sie müssen Ihren schrottigen Einkaufswagen an denen all der anderen erschöpften, hektischen Leute vorbeimanövrieren, und die Tapergreise bewegen sich im Tempo der Kontinentaldrift, und verpeilte Leute und ADHS – Teenager blockieren die Gänge, und Sie müssen die Zähne zusammenbeißen und möglichst höflich fragen, ob Sie mal durchkönnen, und wenn Sie zu guter Letzt alle Zutaten fürs Essen beisammen haben, stellt sich heraus, dass nicht genug Kassen offen sind, obwohl die übliche Feierabendhektik herrscht, also sind die Schlangen unendlich lang. Was idiotisch ist und Sie fuchsteufelswild macht, aber Sie können Ihren Zorn nicht an der gehetzten Kassiererin auslassen, die völlig überarbeitet ist in einem Job, dessen tägliche Ödnis und Sinnlosigkeit unser aller Fantasie hier an dieser renommierten Universität übersteigt … aber schlussendlich kommen Sie an die Reihe,bezahlen Ihre Lebensmittel, warten darauf, dass das Lesegerät Ihre Kartenzahlung akzeptiert, und bekommen mit einer Stimme, die wie der leibhaftige Tod klingt, ein »Schönen Tag noch« mit auf den Weg gegeben . Und dann müssen Sie mit Ihren Lebensmitteln in den schauderhaften, hauchdünnen Plastiktüten im Einkaufswagen mit dem einen eiernden Rad, das immer so nervtötend nach links zieht, draußen über den ganzen überfüllten, holprigen, zugemüllten Parkplatz und die Tüten möglichst so im
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