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Das hier ist Wasser

Das hier ist Wasser

Titel: Das hier ist Wasser
Autoren: David Foster Wallace
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dann auch nie darüber, wo die jeweiligen Schablonen, der jeweilige Glaube herkommt, will sagen, wo im Inneren der beiden Männner diese ihren Ort haben. Als wäre die grundlegende Sicht eines Menschen auf die Welt und den Sinn seiner Erfahrungen irgendwie automatisch in ihm verdrahtet wie Körper- oder Schuhgröße, oder als würden sie wie die Sprache von der Kultur vorgegeben. Als wäre unsere Konstruktion von Sinn keine Frage der persönlichen und ausdrücklichen Wahl, der bewussten Entscheidung.
    Hinzu kommt die Arroganz.
    Der nichtreligiöse Mann ist absolut und unausstehlich selbstsicher im Abtun der Möglichkeit, dass die Eskimos etwas mit seinem Stoßgebet zu tun haben könnten. Wobei es zugegebenermaßen auch viele religiöse Menschen gibt, die ihrer Interpretationen auf arrogante Weise sicher sind. Sie sind wahrscheinlich noch abstoßender als die Atheisten, zumindest für die meisten hier Anwesenden, aber Tatsache ist, dass religiöse Dogmatiker dasselbe Problem haben wie der Atheist in der Geschichte – Arroganz, blinde Gewissheit, eine Engstirnigkeit, die wie eine Gefängniszelle so absolut ist, dass der Häftling nicht mal merkt, dass er eingesperrt ist.
    Ich glaube, das geisteswissenschaftliche Mantra, »das Denken zu lernen«, läuft im Grunde darauf hinaus, dass ich ein bisschen Arroganz ablege, ein bisschen »kritisches Bewusstsein« für mich und meine Gewissheiten entwickle … denn das Zeug, dessen ich mir automatisch sicher bin, erweist sich großenteils als total falsch und irreführend. Ich habe das auf die harte Tour gelernt, und ich fürchte, das werden Sie nach Ihrem Abschluss auch tun müssen.
    Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben für die komplette Unrichtigkeit von etwas, dessen ich mir automatisch sicher bin. Meine unmittelbare Erfahrung stützt meine tiefsitzende Überzeugung, dass ich der absolute Mittelpunkt des Universums bin, der echteste, lebendigste und bedeutendste existierende Mensch. Wir denken selten über diese natürliche, grundlegende Selbstzentriertheit nach, weil sie sozial so abstoßend ist, aber im Grunde ist sie bei uns allen so ziemlich gleich. Sie ist unsere Standardeinstellung, die mit der Geburt in unseren psychischen Festplatten verdrahtet wird. Überlegen Sie mal: Sie haben nie eine Erfahrung gemacht, bei der Sie nicht im absoluten Mittelpunkt standen. Die Welt, die Sie erfahren, liegt vor Ihnen oder hinter Ihnen, links oder rechts von Ihnen, auf Ihrem Fernseher, Ihrem Monitor oder sonstwo. Die Gedanken und Gefühle anderer Leute müssen Ihnen irgendwie kommuniziert werden, aber Ihre eigenen sind unmittelbar, zwingend und wirklich. Sie wissen schon, was ich meine.
    Bitte haben Sie keine Angst, ich will Ihnen hier keine Predigt über Mitgefühl, Außenorientiertheit und all die anderen sogenannten »Tugenden« halten. Es geht nicht um Tugend – es geht vielmehr darum, ob ich diese angeborene, fest verdrahtete Standardeinstellung irgendwie ändern oder überwinden möchte, diese tiefsitzende und im wahrsten Sinne des Wortes zu verstehende Ichbezogenheit, deretwegen wir alles durch die Linse des Selbst sehen und interpretieren. Menschen, die ihre angeborene Standardeinstellung auf diese Weise anpassen können, werden oft als »gut angepasst« beschrieben, und meiner Meinung nach ist dieser Begriff kein Zufall.
    Da wir uns hier in den heiligen Hallen der Wissenschaft befinden, stellt sich nun natürlich die Frage, inwiefern diese Anpassung unserer Standardeinstellung der Bildung oder des Intellekts bedarf. Die nicht weiter überraschende Antwort lautet, dass das von der Art besagter Bildung abhängt.
    Das vielleicht Gefährlichste an einer akademischen Bildung ist – zumindest in meinem Fall –, dass es die Neigung zur Überinterpretation verstärkt. Ich verliere mich in Abstraktionen, statt auf das zu achten, was sich vor meiner Nase abspielt. Statt auf das zu achten, was sich in mir abspielt. Wie Sie alle garantiert längst wissen, ist es äußerst schwer, geistig rege und aufmerksam zu bleiben und sich von dem ständigen Monolog im eigenen Kopf nicht einlullen zu lassen. Sie wissen aber noch nicht, was bei diesem Kampf alles auf dem Spiel steht. In den zwanzig Jahren seit meinem eigenen Uni-Abschluss habe ich langsam aber sicher begriffen, wie hoch dieser Einsatz ist, und verstanden, dass das geisteswissenschaftliche Klischee, einem »das Denken beizubringen«, in Wirklichkeit die Abkürzung einer sehr tiefen und wichtigen Wahrheit ist. »Selberdenken
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