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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz
Autoren: Tad Williams
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man später herausfand, von dritter Seite vergiftet worden, aber Mehnad hatte nicht mehr lange genug gelebt, um die Wirkung zu spüren.
    Und während die Leibwachen beider Prinzen noch in einem Nebel aus Verwirrung und Zorn um die Leichen herumstanden, traten Tulim und Gorhan aus dem Versteck, von wo aus sie das Ganze beobachtet hatten. Sie hatten nur ein paar von Gorhans Wachen dabei, konnten es an Zahl weder mit Ultins noch mit Mehnads Trupp aufnehmen, aber die Männer, die eben noch für die rivalisierenden Brüder gekämpft hatten, erkannten rasch, dass ein Sieg über Tulim für sie nur bedeuten würde, sich eine neue Stellung suchen zu müssen — denn was ist ein prinzlicher Leibwächter ohne Prinz? Schließlich war Tulim ja ein Nachkomme Parnads, und wenn er auch anfangs nur ein unbedeutender Nachkomme gewesen war, hatte er es doch geschafft, fast zwei Dutzend andere zu überleben — das allein war schon Grund genug, ihn als ernsthaften Thronfolgekandidaten zu betrachten. Gorhans kleine, aber getreue Leibwache und ihre spitzen Speere waren ein weiteres, gewichtiges Argument.
    So also geschah es, dass Prinz Tulim, den zuvor kaum jemand bemerkt und niemand sonderlich gefürchtet hatte, über Dutzende von Leichen ging, um auf den Falkenthron von Xis zu gelangen, wo er sich den Autarchennamen
Sulepis am-Bishakh
zulegte. In den folgenden Jahren würde Sulepis sich auf das historische Recht des Großen Xis berufen, über den gesamten Kontinent Xand zu herrschen, und zur Durchsetzung ebendieses Rechts über Hunderttausende weiterer Leichen gehen, ja praktisch die gesamte Welt südlich der Ostaeischen See mit seinen blutigen Fußspuren überziehen. Und wenn er sich danach die Eroberung des nördlichen Kontinents Eion zum Ziel setzte — wer konnte es ihm verdenken? Die Vorsehung war eindeutig mit ihm: Seine Flamme brannte in der Tat heller als alle anderen.
    Und wie ein Gott richtete Tulim-der-jetzt-Sulepis-war nicht nur über das Los von Kontinenten: Er konnte auch persönlich werden. Wenige Tage nach seiner Thronbesteigung kam es zwischen ihm und seinem Onkel Gorhan zu einem Disput über irgendeine mindere Frage der Staatskunst, wobei Gorhan den neuen Autarchen mit einem Blick bedachte, der ihn, wenn auch vielleicht nicht mit Scham ob seiner Undankbarkeit, so doch mit einer gewissen Verlegenheit erfüllen sollte.
    »Ich bin enttäuscht, Herr«, erklärte Gorhan seinem Neffen. »Ich dachte, wir wären
so.«
Er presste Zeige- und Mittelfinger der erhobenen Hand aneinander. »Ich dachte, Ihr hieltet genug von mir, um auf meinen Rat zu hören. Ihr seid wie ein Sohn für mich, Tulim. Und ich hatte gehofft, Euch so etwas wie ein Vater zu sein.«
    »Wie ein Vater?« Sulepis zog eine Braue hoch und fixierte Gorhan mit Augen, so erbarmungslos und golden wie die eines Jagdfalken. »Das könnt Ihr haben.« Er wandte sich an den Hauptmann seiner Leopardengarde. »Bringt den alten Mann weg«, sagte er. »Zieht ihm die Haut ab — aber langsam, damit er es spürt. Und auch nicht im Ganzen, sondern in einem durchgehenden Streifen, immer rundherum von den Füßen bis zum Scheitel. Ich möchte, dass er es bis zum Schluss mitbekommt, mein neuer ›Vater‹«
    Selbst der abgebrühte Hauptmann zögerte, als Gorhan auf die Knie fiel und unter Tränen um Gnade flehte. »Ein durchgehender Streifen, o Goldener?«, fragte der Soldat. »Wie breit?«
    Sulepis lächelte und presste Zeige- und Mittelfinger zusammen.
»So.«

ERSTER TEIL - DAS VERKNOTETE SEIL

1

Kaltes Fieber
    »Dieses Buch ist für alle Kinder von edler Geburt, als eine Unterweisung am Vorbild des Waisen, des Frommsten unter den Sterblichen und Lieblings der Götter ...«
    Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder
    Die fernen Berge waren schwarz, der felsige Strand und das anbrandende Meer ebenso, und der Himmel war wie nasser, grauer Stein; das einzig Helle, das er sah, waren die Kämme der Wellen, die der steife Wind vor sich hertrieb, und die leuchtend weiße Gischt, die jedes Mal aufspritzte, wenn eine dieser Wellen gegen die Felsen schlug.
    Barrick konnte das alles kaum aufnehmen. Vom Stimmenlärm der Feuerblume fühlte sich das Innere seines Kopfes noch lauter und gefährlicher an als die tosende Brandung, so als könnte ihn dieser Sturm von fremden Gedanken, Ideen und Erinnerungen jeden Moment davonreißen, beuteln, überrollen, hinabziehen und ertränken ...
    ... Nicht mehr, seit Mawra die Atemlose auf Erden wandelte
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