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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz
Autoren: Tad Williams
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nicht in Verdacht, etwas mit den anfänglichen Todesfällen zu tun zu haben — viele Leute glaubten, dass Parnads Tod eine schon lange schwärende, mörderische Rivalität zwischen aussichtsreichen Thronanwärtern ausgelöst hatte. Ja, während des Jahrs des Scotarchen (wie es später genannt werden sollte) waren die meisten Einwohner von Xis und vor allem die klügsten Männer im Obstgartenpalast überzeugt, dass es ein Machtkampf zwischen Dordoms jüngeren Brüdern Ultin und Mehnad war, die, während andere starben oder flohen, unbeschadet ausharrten, bis in Xis nur noch sie, Tulim und eine Handvoll weiterer Prinzen übrig waren.
    Die meisten klugen Männer am Hof waren sich sicher, dass Tulim nur deshalb noch lebte, weil er für niemanden eine echte Bedrohung darstellte. Die wenigen, die ihn besser kannten und womöglich den Verdacht hatten, dass nicht alles so war, wie es aussah, kannten ihn aber auch gut genug, um nicht über ihn zu munkeln. Von diesen wahrhaft klugen Männern am Hof erlebten es viele, ihm dienen zu dürfen.
    Der Klügste von allen war natürlich Onkel Gorhan, der in dem jungen Tulim etwas Gnadenloses — vielleicht den Widerschein dieser inneren Flamme — erkannt und sein eigenes Schicksal an das des unbedeutenden, da in der Thronfolge so weit hinten stehenden Prinzen geknüpft hatte. Das war ein echtes Hasardspiel von Gorhan gewesen, da er ja als gelehrter und nicht weiter bedrohlicher älterer Mann beste Chancen gehabt hätte, die Inthronisierung eines neuen Herrschers zu überleben, sein Ratgeberamt über eine weitere Regierungszeit oder auch zwei zu versehen, irgendwann friedlich und in Würde zu sterben und dann zum Zeichen dafür, wie hoch er in der Gunst der königlichen Familie gestanden hatte, mit tausend lebenden Sklaven begraben zu werden. Stattdessen setzte er alles auf diesen einen unwahrscheinlichen Würfelfall ... so jedenfalls musste es jedem erscheinen, der noch nie tiefer in Tulims beunruhigend goldene Augen geblickt hatte.
    »Ich könnte nicht anders, Gesegnete Hoheit«, erklärte ihm Gorhan. »Weil ich schon bei unserer ersten Begegnung wusste, was aus Euch werden würde. Und nichts könnte mich je dazu bringen, Euch zu verraten. Ihr und ich, wir sind
so.«
Der Ältere presste Zeige- und Mittelfinger der erhobenen Hand aneinander, um zu demonstrieren, wie eng er und Tulim verbunden waren.
»So.«
    »So,
Onkel«, wiederholte der Prinz und machte die gleiche Geste. »Ich habe Euch wohl verstanden.«
    Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis ihre Partnerschaft Früchte trug. Ein geringerer Prinz saß mit Mehnad, einem der beiden verbliebenen Thronanwärter, bei einem nicht sonderlich entspannten Gastmahl. Mitten im Essen rang der Prinz plötzlich nach Luft, als steckte ihm ein ganzes Entenei in der Kehle. Er lief dunkel an, kam auf die Beine, wankte durch das auf dem Boden arrangierte Speisenaufgebot, ohne es zu sehen, und fiel dann mitten in eine Dienerschar mit Fingerschalen und Weinkrügen. Das so verursachte Klirren und Scheppern lenkte zunächst davon ab, dass die junge Gemahlin des Prinzen einen ähnlichen, wenn auch leiseren Tod gestorben war.
    Prinz Mehnad, außer sich vor Wut, rief, dass er nichts damit zu tun habe, dass das ein Komplott sei, um ihn als engherzigen Kleingeist hinzustellen (denn was sonst sollte man von jemandem denken, der Gäste in seinem eigenen Haus vergiftete, noch dazu nicht nur Männer, sondern auch noch eine Frau?). Sicher, dass sein Bruder Ultin dahintersteckte, marschierte Mehnad mit einem Trupp Wachen zu Ultins Wohnung im Blaulampenviertel der Stadt, aber die Kunde von dem Mord war ihm vorausgeeilt, und Ultin erwartete ihn bereits mit einem Trupp eigener Wachen. Beide Brüder waren der ewigen Intrigen und Gegenintrigen, des Meuchelns und Misstrauens so müde, dass sie keinen Vorwand brauchten, um ihre Differenzen ein für alle Mal auszutragen. Während die Wachen eine Schlägerei unter sich veranstalteten, forderten Ultin und Mehnad einander heraus und lieferten sich, grimmige Krieger, die sie waren, einen erbarmungslosen Zweikampf.
    Erst als Ultin seinen Bruder schließlich gefällt hatte und triumphierend über dessen Leichnam stand, selbst zwar blutend, aber nicht ernstlich verletzt, wurde Tulims Plan offenbar. Noch während Ultin seinen Siegerstolz hinauskrähte, begann er plötzlich nach Luft zu ringen wie vorhin der unglückliche Prinz. Blut rann ihm aus Nase und Mund, dann fiel er auf seinen toten Bruder. Beider Klingen waren, wie
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