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Das heilige Buch der Werwölfe

Das heilige Buch der Werwölfe

Titel: Das heilige Buch der Werwölfe
Autoren: Viktor Pelewin
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Bequemlichkeit halber mein Alter mit zweitausend Jahren angeben – diesen Zeitraum vermag ich jedenfalls mehr oder weniger komplett abzurufen. Man könnte mir das als Koketterie auslegen, tatsächlich bin ich weitaus älter. Die Ursprünge meines Lebens verlieren sich in grauer Vorzeit, mich daran erinnern zu wollen, hieße, mit einer Taschenlampe in den Nachthimmel zu leuchten. Wir Werfüchse sind nicht wie Menschen auf die Welt gekommen. Wir sind aus einem Himmelsstein hervorgegangen, es besteht eine entfernte Verwandtschaft mit Sun Wukong, dem Helden aus der Reise nach dem Westen . (Im Übrigen will ich mich nicht verbürgen, dass das alles stimmt – persönliche Erinnerungen an diese legendäre Zeit habe ich keine mehr.) Damals waren wir anders. Ich meine: innerlich, nicht äußerlich. Äußerlich verändern wir uns mit zunehmendem Alter nicht – sieht man davon ab, dass in unserem Schweif alle einhundertacht Jahre ein neues silbernes Haar auftaucht.
    Im Vergleich zu manch anderem Vertreter meiner Sippe habe ich in der Geschichte keine sehr sichtbare Spur hinterlassen. Immerhin finde ich Erwähnung in einem Stück Weltliteratur, das kann man sogar auf Russisch lesen; dazu muss man in die Akademische Buchhandlung gehen und das Buch Der Mann, der einen Geist verkaufte von Gan Bao kaufen; dort findet man die Geschichte, wie zur späten Han-Zeit der Statthalter der Provinz Sihai seinen entlaufenen Oberleibwächter sucht. Der Statthalter erfährt, ein böser Geist habe den Wächter entführt, und so wird ein Trupp Soldaten auf die Spur des Verschollenen geschickt. Was dann folgt, kann ich bis heute nicht ohne Rührung lesen (die betreffende Seite trage ich als Talisman bei mir):
     
    … den Flüchtigen zu finden, ließ der Statthalter einige Dutzend Soldaten zu Fuß und zu Pferde mit mehreren Jagdhunden an ihrer Seite das Gelände vor der Stadt durchstöbern. Tatsächlich wurde Xiao in einer leeren Grabkammer entdeckt. Nicht aber das Wertier, das hatte sich, als es die Menschen und die Hunde nahen hörte, verzogen. Die von Xiang entsandten Leute brachten Xiao zurück. Äußerlich glich er gänzlich einem Fuchs, menschliche Züge waren beinahe gar nicht mehr an ihm zu entdecken; »A Ze!« war alles, was er stammeln konnte. (A Ze ist eine geläufige Bezeichnung für einen Werfuchs.) Nach etwa zehn Tagen kehrte sein Verstand allmählich zurück, und er berichtete wie folgt:
    »Das erste Mal, dass der Fuchs kam, begann damit, dass in der hintersten Ecke des Hauses, zwischen den Hühnerleitern, eine Frau auftauchte, die sehr hübsch war. Sie nannte sich A Ze und versuchte mich zu sich zu locken. Und dies immer wieder, bis ich, für mich selbst überraschend, den Verlockungen nachgab. Sie wurde sogleich meine Frau, und noch am selben Abend waren wir in ihrem Hause … An ein Zusammentreffen mit Hunden kann ich mich nicht erinnern, nur, dass ich sehr, sehr froh war.«
    »Das war ein böser Berggeist«, stellte ein Dao-Wahrsager fest.
    In den Notizen über berühmte Berge heißt es: »Der Werfuchs war in sehr alten Zeiten ein loses Frauenzimmer, und ihr Name war A Ze. Später verwandelte sie sich in einen Fuchs.«
    Deshalb werden Wertiere dieser Art heute meistenteils A Ze genannt.
     
    Ich kann mich an den Mann entsinnen. Sein Kopf sah aus wie ein gelbes Ei, die Augen wie zwei an das Ei geklebte Papierschnipsel. Der Verlauf unserer Affäre ist nicht ganz wahrheitsgemäß wiedergegeben, außerdem irrt der Erzähler, wo er sagt, ich hätte A Ze geheißen. Der Leibwächter nannte mich bei meinem Namen A, das »Ze« war nur der Laut, den er zuletzt, als ihn die Lebensgeister verließen, zwanghaft von sich gab: Er sog beim Reden geräuschvoll Luft ein, wie um den hängenden Unterkiefer an seinen Platz zu saugen. Ferner ist unwahr, dass ich zuerst ein »loses Frauenzimmer« gewesen wäre und mich erst später in einen Werfuchs verwandelt hätte – so etwas kommt überhaupt nicht vor, soviel ich weiß. Nichtsdestoweniger spüre ich beim Wiederlesen dieser kleinen Passage altchinesischer Prosa die gleiche Aufregung wie eine gealterte Schauspielerin, wenn sie das früheste erhaltene Foto von sich betrachtet.
    Woher der Name A kommt? Einem konfuzianischen Bibliophilen (der auf kleine Jungs stand und außerdem meine Bewandtnis kannte, was ihn nicht daran hinderte, meine Dienste bis an sein Lebensende in Anspruch zu nehmen) ist eine hübsche Erklärung dafür eingefallen. Dies sei der kurze Laut, den ein Mensch auszustoßen gerade
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