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Das heilige Buch der Werwölfe

Das heilige Buch der Werwölfe

Titel: Das heilige Buch der Werwölfe
Autoren: Viktor Pelewin
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will, nicht das Geringste zu schaffen. A Huli heißt auf Chinesisch Fuchs A , Analog zu westlichen Sprachen ließe sich A als mein Vorname ansehen und Huli als Familienname. Was kann ich zu meiner Rechtfertigung anführen? Ich wurde so getauft, als es dieses Wort im Russischen noch nicht gab – wie das Russische überhaupt.
    Wer hätte damals ahnen können, dass mein ehrenwerter Familienname irgendwann zum Schimpfwort werden würde? (Mit dem Vornamen hat man es übrigens auch nicht viel leichter, selbst wenn er nur aus einem Buchstaben besteht. Man geht die Straße lang, sieht plötzlich ein großes fettes A an einem Haus mit vielen entnervten Menschen davor und denkt: nanu?… Ach so. Die Alpha-Bank.) Aber hat nicht schon Ludwig Wittgenstein gesagt, dass die Welt aus nichts als Namen besteht? Also kein Grund zum Übelnehmen.
    Wir Werfüchse sind glückliche Geschöpfe, weil wir ein kurzes Gedächtnis haben. Immer nur die letzten zehn, zwanzig Jahre haben wir in klarer Erinnerung; alles, was davor liegt, ruht in dem großen schwarzen Nichts, von dem schon die Rede war. Es geht aber nicht ganz verloren. Die Vergangenheit ist für uns wie ein lichtloses Depot, aus dem wir bei Begehr jede Erinnerung hervorkramen können; hierfür bedarf es allerdings einer besonderen Willensanstrengung, die ziemlich quälend sein kann. Diese Fähigkeit macht uns als Gesprächspartner interessant. Zu beinahe jedem Thema können wir parlieren; zudem beherrschen wir die wichtigsten Weltsprachen – Zeit genug zum Lernen hatten wir ja. Doch kratzen wir die Narben unseres Gedächtnisses nicht öfter auf als unbedingt nötig, der banale Strom von Gedanken im Alltag unterscheidet sich praktisch nicht von dem normaler Menschen. Selbiges trifft auf unsere gewählte Identität zu – sie macht den Werfuchs vom schwanzlosen Affen ununterscheidbar.
    Viele Leute begreifen nicht, wie das sein kann. Ich versuche eine Erklärung. In allen Kulturen ist es üblich, bestimmte Äußerlichkeiten mit bestimmten Charakterzügen in Verbindung zu bringen. Die schöne Prinzessin ist herzensgut und sensibel; eine böse Hexe ist hässlich, mit einer großen Warze auf der Nase. Es gibt auch subtilere Verknüpfungen, die nicht so leicht zu beschreiben sind – die hohe Kunst der Porträtmalerei füllt diese Lücke. Im Laufe der Zeit ändern sich solche Zusammenhänge. Was in der einen Epoche als schön gilt, ruft in der nächsten Befremden hervor. Um es einfach zu sagen: Der Menschentyp, mit dem ein durchschnittlicher Zeitgenosse die äußeren Merkmale eines Fuchses assoziiert, macht die jeweilige Identität des Werfuchses aus.
    Alle fünfzig Jahre ungefähr schieben wir unserem immergleichen Aussehen ein neues Seelensimulakrum unter und zeigen es der Menschheit vor. Auf diese Weise stimmt unser Inneres mit unserem Äußeren aus menschlicher Sicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt hundertprozentig überein. Dass es nicht mit dem Eigentlichen übereinstimmt, ist eine andere Sache, aber wer weiß das schon? Die meisten Leute haben überhaupt nichts Eigentliches, nur Äußeres und Inneres, wie Kopf oder Zahl einer Münze, von der der Mensch glaubt, dass er sie tatsächlich auf seinem Konto liegen hat.
    Ich weiß, es klingt merkwürdig, doch es ist so: Den jeweiligen Mitmenschen zuliebe verpassen wir unserem Lärvchen von Zeit zu Zeit ein neues Ich, wie ein nach neuester Mode geschnittenes Kleid. Die vorherigen kommen in die Kleiderkammer, und bald müssen wir uns schon sehr anstrengen, wenn wir uns erinnern wollen, wie wir zuvor gewesen sind. Wir leben von Bagatellen, Flüchtigkeiten, die Spaß und Unterhaltung bieten. Mir scheint, das ist eine Art Evolutionsmechanismus, der uns Mimikry und Maskerade erleichtern soll. Denn die beste Mimikry ist es, wenn nicht nur dein Gesicht, sondern auch dein Denken den anderen angeglichen ist. Wohlgemerkt: Nur für die Werfüchse ist es Mimikry. Für den Menschen ist es Schicksal.
    Vom Aussehen her werde ich so zwischen vierzehn und siebzehn geschätzt – mehr zur Vierzehn hin. Mein physisches Erscheinungsbild ruft bei den Menschen und insbesondere den Männern starke, widersprüchliche Gefühle hervor, die zu beschreiben keinen Spaß macht und außerdem überflüssig ist – haben doch auch die Lolitas heutzutage schon ihre Lolita gelesen. Diese Gefühle sind mein Brot. Wahrscheinlich wäre es nicht falsch zu sagen, dass ich von Betrügerei lebe, denn in Wahrheit bin ich durchaus nicht minderjährig. Lassen Sie mich der
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