Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Heerlager der Heiligen

Das Heerlager der Heiligen

Titel: Das Heerlager der Heiligen
Autoren: Jean Raspail
Vom Netzwerk:
Leinengewändern herausragten, die den Tuniken, Togen oder Saris von Pilgern glichen. Als der Professor beim Zählen dieser hageren Gandhiarme bei 200 ankam, hörte er auf, da er den Rand des Kreises erreicht hatte.
    Er machte nun eine kurze Überschlagsrechnung. Bei der Länge und Breite des Oberdecks kam er zum Ergebnis, daß man dreißig solcher aneinanderliegenden Kreise annehmen konnte, daß außerdem zwischen den Kreisen zwei Räume in Form von Dreiecken lagen, deren Spitzen sich berührten und deren Fläche etwa ein Drittel der anliegenden Kreise ausmachte. 30 plus 10 = 40 Kreisflächen mit je 200 Armen ergaben somit 8 000 Arme. Viertausend Personen allein auf dieser Schiffsbrücke! Dazu kamen bei vermutlich gleicher Dichte der Belegung die Zwischendecks und Laderäume, demzufolge der Professor die gewonnene Zahl mit 8 multiplizierte. Somit waren auf einem einzigen Schiff rund dreißigtausend Menschen! Ohne die Toten zu zählen, die um die Schiffswandung herumschwammen und ihre Lumpen an der Oberfläche des Wassers hinter sich herzogen, denn die Überlebenden hatten sie schon am Morgen über Bord geworfen.
    Langsam senkte sich die Nacht über das Schauspiel. Ein letztes Mal huschte ein roter Schein über die gestrandete Flotte. Mehr als hundert verrostete, außer Dienst gestellte Schiffe lagen da als Zeugen eines Wunders, das sie vom anderen Ende der Welt hierhergeführt und bis dahin geschützt hatte, mit Ausnahme eines einzigen Schiffs, das auf der Höhe von Ceylon durch einen Schiffbruch verlorengegangen war. Fast umsichtig aneinandergereiht waren sie hier auf Felsen oder Sand aufgelaufen. Ihr wie mit einem letzten Schwung hochgerissener Bug war dem Ufer zugekehrt. Hundert Schiffe! Der alte Professor spürte in sich eine Mischung von Schaudern und Erregung aufkommen, wie man es manchmal verspürt, wenn die Gedanken sich in der Unendlichkeit und Ewigkeit verlieren.
    An diesem Ostersonntagabend belagerten 800 000 Lebende und Tote friedlich die Grenze des Abendlandes. Am nächsten Morgen wird alles abgelaufen sein. Vom Ufer her stiegen zu den Hügeln, zum Dorf, ja bis zur Terrasse des Professors weiche Gesänge empor, die trotz ihrer Sanftheit mit der Kraft eines Chores von 800 000 Stimmen ertönten. Einst zogen die Kreuzfahrer am Vorabend des Angriffs singend gen Jerusalem. Beim siebten Trompetenstoß waren die Mauern von Jericho kampflos eingestürzt. Und als nach dem Gesang Stille eintrat, haben die auserwählten Völker gespürt, was es heißt, in göttliche Ungnade gefallen zu sein. Jetzt hörte man gleichzeitig den Lärm von Hunderten von Lastwagen. Seit den Morgenstunden bezog die Armee am Ufer des Mittelmeers Stellung.
    In der eingebrochenen Nacht wölbte sich über der Terrasse ein Sternenhimmel. Es war etwas kühl im Haus, als der Professor hineinging. Dennoch beschloß er, die Tür offen zu lassen. Kann eine dreihundert Jahre alte, kunsthandwerklich gefertigte Eichentür eine Welt schützen, die schon zuviel erlebt hat? Das Licht ging nicht. Sicher sind die Elektriker des an der Küste liegenden Elektrizitätswerks auch nach Norden geflohen. Wahrscheinlich haben sie sich mit dem übrigen Volk, das allem den Rücken gekehrt hat, aus dem Staub gemacht. Sie alle sehen nicht, sehen nichts, verstehen nichts und wollen auch nichts verstehen.
    Der Professor zündete die Petroleumlampe an, die er im Falle einer Panne stets bereit hatte. Dann warf er ein Streichholz in den Kamin, wo das sorgfältig vorbereitete Feuer sofort aufflammte, brummte und prasselte und Wärme und Licht verbreitete. Er stellte seinen Transistor an, der dauernd auf die Nachrichtenwelle eingestellt war. Popmusik, Jazz, Sängerinnen, einfältiges Geschwätz, Neger als Saxophonisten, Gurus, Filmstars, Berater für Gesundheit, Herz und Sex, dies alles wurde plötzlich als lästig betrachtet, als ob das bedrohte Abendland sein letztes glanzvolles Gesicht besonders bewahren wollte. Das Programm aller Stationen brachte Mozarts »Kleine Nachtmusik«. Der alte Professor dachte höchst freundlich an den Programmgestalter im Studio Paris. Ohne etwas zu wissen oder zu sehen, hatte dieser offenbar begriffen. Auf den Singsang der 800 000 Stimmen, die er nicht hören konnte, hatte er offensichtlich instinktiv die richtige Antwort gefunden.
    Die Stimme eines Ansagers riß den Professor aus seinen Überlegungen. »Die beim Präsidenten der Republik versammelte Regierung hat den ganzen Tag im Elyséepalast beraten. Im Hinblick auf den Ernst der Lage
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher