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Das Heerlager der Heiligen

Das Heerlager der Heiligen

Titel: Das Heerlager der Heiligen
Autoren: Jean Raspail
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hinzog.
    Das Bild des Überflusses, das gewöhnlich zu sehen war, verchromte Yachten, muskulöse Wasserschifahrer, bezaubernde Mädchen, dicke Bäuche, die sich auf der Brücke der großen Segelschiffe zeigten, war heute wie weggefegt. Auf dem leeren Meer lag diese unsäglich verrostete Flotte, die vom andern Ende der Erde gekommen zu sein schien und nun, nur fünfzig Meter vom Ufer entfernt, auf Grund aufgelaufen war. Seit dem frühen Morgen richteten sich die Blicke des alten Professors auf diesen Vorgang. Der üble Latrinengeruch, der dem Auftreten dieser Flotte wie der Donner dem Gewitter vorausgegangen war, hatte sich jetzt verflüchtigt.
    Der alte Mann wandte seine Augen von dem Teleskop ab, durch welches diese unfaßbare Invasionsflotte so nahe erschien, als wäre sie schon die Hänge heraufgekommen und in sein Haus eingedrungen. Er rieb seine müden Augenlider und richtete den Blick unwillkürlich auf die Haustür. Sie war aus massivem Eichenholz, eine unzerstörbare Masse, ähnlich wie ein Festungstor. Auf dem dunklen Holz war der Familienname des alten Herrn eingraviert und die Zahl 1673, das Jahr der Fertigung durch seinen Vorfahren. Diese Tür war der einzige Zugang zu einem Raum, der gleichzeitig als Wohnzimmer, Bibliothek und Büro diente. Von ihm aus gelangte man über die ebenerdig dazu gelegene Terrasse zu einer kleinen Treppe mit fünf Stufen, die in einen abwärts führenden Pfad mündete. Das Anwesen war nicht abgeschlossen und jeder Passant hatte freien Zutritt, wie es im Dorf üblich war, wenn einer Lust hatte, dem Besitzer einen Besuch abzustatten. Daher blieb auch das Haus des Professors jeden Tag von morgens früh bis in die Nacht offen. Dies stellte der alte Herr zum ersten Mal fest. Entzückt hierüber kam es über seine Lippen: »Ich frage mich, ob eine Tür offen oder geschlossen sein soll?«
    Dann setzte er wieder seine Beobachtungen am Teleskop fort, denn er wollte die letzten Strahlen der untergehenden Sonne ausnutzen, um vor Einbruch der Nacht das unwahrscheinliche Schauspiel nochmals zu betrachten. Wieviel Menschen mögen wohl dort unten an Bord der gestrandeten Wracks sein? Wenn man die fast unglaubliche Anzahl für wahr hält, die in den knappen Nachrichten im Radio seit dem frühen Morgen genannt wird, so sollen riesige Menschenhaufen in den Schiffsladeräumen und auf den Brücken zusammengepfercht liegen und diese Massen sich bis zu den Kommandobrücken und Schornsteinen ausdehnen. Und im Innern sollen Lebende auf Leichenbergen stehen, ähnlich wie man es bei Ameisen in Marschbewegung beobachten kann, deren sichtbarer Teil ein lebendiges Gewimmel bildet, darunter aber ein Ameisenweg mit Millionen von Kadavern liegt.
    Der alte Professor – er hieß Calguès – richtete das Rohr des Teleskops auf ein von der Sonne besonders gut angestrahltes Schiff und regelte die Einstellung auf klarste Sicht, wie ein Forscher, der in einer Bakterienkultur die von ihm zu beschreibende Mikrobenkolonie entdeckt. Das Schiff war ein über sechzig Jahre alter Postdampfer, dessen fünf senkrechte Schornsteine in Röhrenform auf das Alter schließen ließen. Vier von ihnen hatten in verschiedenen Höhen große Risse, die vom Alter, vom Rost, von mangelnder Pflege oder von Schicksalsschlägen herrühren mochten. Jetzt lag das Schiff vor dem Strand abgesackt in einem Neigungswinkel von etlichen zehn Grad. Als der Tag zu Ende ging, zeigte sich bei ihm so wenig wie bei den andern Schiffen der Gespensterflotte ein Lichtschimmer. Feuer, Dampfkessel und Generatoren mußten wohl bei dem Schiffbruch schlagartig gelöscht worden sein. Möglicherweise war auch Betriebsstoffmangel schuld, da dieser genau für die einmalige Fahrt berechnet worden war. Es kann auch sein, daß niemand an Bord es für nötig hielt, sich um etwas zu kümmern, da nun der Exodus an den Toren des Paradieses sein Ende gefunden hatte.
    Der alte Herr Calguès stellte dies alles fest, ohne daß es ihn im geringsten berührte. Er war lediglich an dieser Vorhut einer anderen Welt, die an die Tore des Wohlstands pochte, sichtlich interessiert.
    Das Auge an die Linse gedrückt, sah er zunächst nur Arme. Er errechnete, daß der Kreis auf der Schiffsbrücke, den er überblickte, einen Durchmesser von etwa 10 Meter hatte. Dann begann er ruhig zu zählen, was aber so schwer war, wie wenn er die Bäume eines Waldes zählen wollte. Alle Arme waren erhoben und senkten sich dem nahen Ufer zu, nackte, magere, schwarze und braune Arme, die aus weißen
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