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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Autoren: John Boyne
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Diese Bolschewiken haben vielleicht Nerven! Man sollte etwas gegen die unternehmen, bevor sie sich noch ganz Europa unter den Nagel reißen. Haben Sie gewusst, dass dieser Lenin unsere Bibliothek in Anspruch genommen hat?«
    »Nein, das ist mir neu«, sagte ich und zog erstaunt eine Augenbraue hoch.
    »Aber es ist wahr, das versichere ich Ihnen«, sagte er, als er meine Skepsis spürte. »Ich glaube, das war so um 1901 oder 1902 herum. Lange vor meiner Zeit. Aber mein Vorgänger hat mir davon erzählt. Er sagte, Lenin sei hier jeden Morgen gegen neun Uhr aufgetaucht und bis zur Mittagszeit geblieben. Dann sei seine Frau gekommen und habe ihn abgeholt, um mit ihm an dem revolutionären Käseblatt zu arbeiten, das sie hier herausgaben. Die ganze Zeit über versuchte er, Thermosflaschen mit Kaffee reinzuschmuggeln, aber wir haben ihn immer erwischt. Er hätte deswegen beinahe Hausverbot gekriegt. Schon allein daran lässt sich ermessen, was für ein Mensch das gewesen ist. Sie sind kein Bolschewik, Mr Jatschmenew, oder?«, sagte er, wobei er nach vorn ruckte und mich anfunkelte.
    »Nein, Sir«, erwiderte ich mit einem Kopfschütteln, und dann starrte ich auf den Fußboden, weil ich seinem bohrenden Blick nicht standhalten konnte. Die erlesenen Marmorfliesen zu meinen Füßen überraschten mich. Ich dachte, ich hätte solchen Prunk hinter mir gelassen. »Nein, ich bin garantiert kein Bolschewik.«
    »Was sind Sie dann? Ein Leninist? Ein Trotzkist? Ein Zarist?«
    »Nichts von alldem, Sir«, entgegnete ich, wobei ich wieder zu ihm aufblickte, mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck. »Ich bin überhaupt nichts. Oder nichts weiter als ein Mensch, der kürzlich in Ihrem großartigen Land eingetroffen ist und eine ehrliche Arbeit sucht. Ich habe keine politischen Bindungen, und ich suche auch keine. Ich möchte nichts weiter als ein ruhiges Leben und eine Möglichkeit, anständig für meine Familie sorgen zu können.«
    Er ließ sich diese Äußerung eine Zeit lang durch den Kopf gehen, und ich fragte mich, ob ich mich ihm gegenüber vielleicht zu unterwürfig verhielt, doch ich hatte mir diese Worte auf meinem Weg nach Bloomsbury zurechtgelegt, da ich die Stelle unbedingt haben wollte, und ich fand, sie klangen gerade demütig genug, um einen potenziellen Arbeitgeber zufriedenzustellen. Es war mir egal, wenn sie mich wie einen Dienstboten erscheinen ließen. Ich brauchte Arbeit.
    »Also gut, Mr Jatschmenew«, sagte er schließlich mit einem Kopfnicken. »Ich denke, wir werden es mit Ihnen versuchen. Zunächst eine Probezeit, sagen wir sechs Wochen, und wenn Sie und ich miteinander zufrieden sind, werden wir anschließend ein weiteres Schwätzchen halten und sehen, ob wir Ihnen eine Festanstellung geben können. Na, wie klingt das?«
    »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Sir«, sagte ich, wobei ich lächelte und ihm, als eine Geste der Freundschaft und Wertschätzung, meine Hand entgegenstreckte. Er zögerte einen Augenblick, so als hätte ich mir eine unerhörte Freiheit erlaubt, und dann dirigierte er mich in ein benachbartes Büro, wo man meine Personalien aufnahm und mir meine neuen Pflichten erläuterte.
    Ich blieb bis zum Ende meines Arbeitslebens in der Bibliothek des British Museum angestellt, und nach meiner Pensionierung suchte ich sie weiterhin fast jeden Tag auf, um dort zu lesen oder um irgendetwas nachzuschlagen, um mich weiterzubilden, an den Tischen, die ich früher abzuräumen hatte. Ich fühlte mich dort sicher. Es gibt keinen Ort auf der Welt, wo ich mich so sicher gefühlt habe wie innerhalb jener Mauern. Mein Leben lang habe ich darauf gewartet, dass sie mich finden, dass sie uns beide finden, doch offenbar sind wir verschont worden. Nur Gott wird uns jetzt noch trennen können.
    Es stimmt, dass ich nie das gewesen bin, was man als modern bezeichnen könnte. Mein Leben mit Soja, unsere lange Ehe, verlief eher traditionell. Obwohl wir beide berufstätig waren und etwa zur gleichen Zeit von der Arbeit nach Hause kamen, war sie es, die unser Essen zubereitete und auch die übrige Hausarbeit erledigte, Waschen, Putzen und dergleichen. Die Vorstellung, ich könnte ihr dabei zur Hand gehen, war bei uns nie ein Thema. Während sie kochte, saß ich am Kaminfeuer und las. Ich mochte lange Romane, vorzugsweise historische Epen, und hatte für die zeitgenössische Literatur nur wenig übrig. Ich versuchte, D. H. Lawrence zu lesen, als dies noch gewagt schien, doch ich kam nicht klar mit dem sonderbaren Dialekt, den
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