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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Autoren: John Boyne
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Und ich war alt. Und sie waren alle gegangen.
    Ich frage mich, ob sich ihre Körper noch immer im Stadium der Verwesung befinden oder ob sie sich bereits aufgelöst haben und eins geworden sind mit dem Staub. Erstreckt sich der Vorgang der Zersetzung über mehrere Generationen, bis er endgültig abgeschlossen ist, oder kann er schneller voranschreiten, abhängig vom Alter des Körpers oder der Art der Bestattung? Und hängt das Tempo des körperlichen Verfalls von der Qualität des Holzes ab, aus dem der Sarg gefertigt wurde? Vom Appetit des Erdreichs? Vom Klima? In der Vergangenheit wäre dies genau die Sorte von Fragen gewesen, über die ich nachgegrübelt hätte, wenn ich mich nicht mehr auf meine Nachtlektüre konzentrieren konnte. Normalerweise machte ich mir dann eine Notiz und ging derlei Fragen so lange nach, bis ich eine befriedigende Antwort gefunden hatte, doch meine Angewohnheiten haben sich in diesem Jahr allesamt verflüchtigt, und nun kommen mir solche Recherchen banal vor. Tatsächlich bin ich schon seit Monaten nicht mehr in der Bibliothek gewesen, nicht mehr, seit Soja krank wurde. Vielleicht werde ich nie wieder dort hingehen.
    Den Großteil meines Lebens – zumindest den Großteil meines Lebens als Erwachsener – habe ich innerhalb der stillen Mauern des British Museum verbracht. Ich fand dort im Frühherbst 1923 eine feste Anstellung, kurz nachdem Soja und ich in London eingetroffen waren: frierend, verängstigt und davon überzeugt, dass sie uns noch immer aufspüren konnten. Ich war damals vierundzwanzig und wusste nicht, dass eine berufliche Tätigkeit dermaßen friedlich sein konnte. Es war fünf Jahre her, dass ich mich ein für alle Mal von den Symbolen meines früheren Lebens – Uniformen, Gewehre, Bomben, Explosionen – verabschiedet hatte, auch wenn sie unauslöschlich in mein Gedächtnis eingeprägt waren. Nun fand ich mich in einer Welt der Gelehrsamkeit wieder, eine willkommene Abwechslung.
    Und vor London war da natürlich Paris gewesen, wo ich jenes Interesse für Bücher und Literatur fortentwickelte, das sich bei mir erstmals in der Blauen Bibliothek geregt hatte, eine Wissbegier, die ich in London weiter zu sättigen hoffte. Zu meinem schier unglaublichen Glück entdeckte ich in der Times eine Stellenausschreibung für einen Hilfsbibliothekar im British Museum. Noch am selben Tag bewarb ich mich dort persönlich um diesen Posten, den Hut in der Hand, und wurde sofort vorgelassen zu Mr Arthur Trevors, meinem potenziellen neuen Arbeitgeber.
    Ich kann mich noch genau an das Datum erinnern. Es war der 12. August. Ich war gerade von der russisch-orthodoxen Cathedral of the Dormition and All Saints gekommen, wo ich für einen alten Freund eine Kerze angezündet hatte, eine alljährliche Geste des Respekts anlässlich seines Geburtstags. Solange ich lebe , hatte ich ihm seinerzeit versprochen. Es schien mir irgendwie passend, dass mein neues Leben am gleichen Tag beginnen sollte wie einst sein kurzes Leben.
    »Wissen Sie, seit wann es die British Library gibt, Mr Jatschmenew?«, fragte er mich, wobei er mich über die halbmondförmigen Gläser seiner Brille fixierte, die einigermaßen nutzlos oben an seiner Nasenwurzel saß. Er verhaspelte sich kein bisschen bei meinem Namen, was mich beeindruckte, da so viele Engländer eine Tugend daraus zu machen schienen, ihn nicht aussprechen zu können. »Seit 1753«, beantwortete er sofort seine eigene Frage, ohne mir die leiseste Gelegenheit zu geben, eine Vermutung zu riskieren. »Als Sir Hans Sloane seine Sammlung von Büchern und Kuriositäten der Nation vermachte und somit den Grundstock für unser Museum stiftete. Wie finden Sie das?«
    Darauf fiel mir nichts anderes ein, als Sir Hans ob seiner Philanthropie und seines gesunden Menschenverstandes zu preisen, eine Antwort, die bei Mr Trevors auf enthusiastische Zustimmung stieß.
    »Da haben Sie vollkommen recht, Mr Jatschmenew«, sagte er, wobei er heftig mit dem Kopf nickte. »Das war ein ganz famoser Bursche, dieser Sloane. Mein Urgroßvater traf sich regelmäßig mit ihm zum Bridge. Inzwischen haben wir natürlich ein Problem mit dem Raum. Er geht uns allmählich aus, verstehen Sie? Heute werden zu viele Bücher herausgebracht, das ist das Problem. Die meisten davon stammen von Halbidioten, Atheisten oder warmen Brüdern, aber, Gott steh mir bei, wir sind nun mal verpflichtet, sie hier alle bei uns unterzustellen. Mit dieser Sorte von Tintenklecksern haben Sie doch nichts zu tun, Mr
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