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Das Haus des Windes

Das Haus des Windes

Titel: Das Haus des Windes
Autoren: Louise Erdrich
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seinen dichten Brauen an und senkte wieder den Blick.
    Jeder der drei Polizisten betrat mit Notizblock und Stift das Krankenzimmer und kam eine Viertelstunde später mit ausdruckslosem Gesicht wieder heraus. Sie schüttelten meinem Vater die Hand und verschwanden.
    Der diensthabende Arzt war ein junger Mann namens Dr. Egge. Er hatte meine Mutter untersucht. Als mein Vater und ich in das Zimmer zurückwollten, war Dr. Egge gerade wiedergekommen.
    Ich denke nicht, dass der Junge …, begann er.
    Ich fand es komisch, dass sein rundlicher, halbkahler, eierförmiger Kopf so gut zu seinem Namen passte. Das ovale Gesicht mit dem schwarzen Brillengestell kam mir bekannt vor, bis mir einfiel, dass meine Mutter solche Gesichter früher manchmal auf mein Frühstücksei gemalt hatte, damit ich es aufaß.
    Meine Frau hat darauf bestanden, dass Joe zu ihr kommt, sagte mein Vater zu Dr. Egge. Sie will, dass er sieht, dass es ihr gutgeht.
    Dr. Egge schwieg. Er sah meinen Vater hinter seinen kleinen runden Brillengläsern durchdringend an. Mein Vater trat einen Schritt zurück und sagte zu mir, ich solle im Wartezimmer nachsehen, ob Clemence schon da sei.
    Ich möchte wieder zu Mom.
    Ich hole dich gleich, sagte mein Vater beschwörend. Geh jetzt.
    Dr. Egge starrte meinen Vater noch eindringlicher an. Ich wandte mich zutiefst widerstrebend von den beiden ab. MeinVater und Dr. Egge sprachen leise miteinander. Ich wollte nicht gehen, also drehte ich mich vor der Flügeltür zum Wartezimmer noch einmal um und beobachtete sie. Vor dem Krankenzimmer blieben sie stehen. Dr. Egge hörte auf zu sprechen und schob sich mit einem Finger die Brille hoch. Mein Vater ging auf die Wand zu, als wollte er durch sie hindurch. Er presste die Stirn und die Hände dagegen und schloss die Augen.
    Dr. Egge wandte den Kopf und bemerkte mich an der Tür. Er zeigte mit dem Finger in Richtung Wartezimmer. Ich war zu jung, schien er mit dieser Geste zu sagen, um diese Reaktion meines Vaters mitzuerleben. Aber ich war seit ein paar Stunden immer resistenter gegen Autoritäten geworden. Statt mich höflich in Luft aufzulösen, rannte ich an Dr. Egge vorbei zu meinem Vater. Ich schlang die Arme unter der Jacke um seinen weichen Rumpf und klammerte mich an ihm fest, ohne ein Wort zu sagen. Im Gleichtakt mit ihm atmete ich in tiefen Schluchzern ein und aus.
    Sehr viel später, als ich selbst Jurist geworden war und noch einmal alle Unterlagen, alle Aussagen durchging, an die ich herankommen konnte, als ich jeden Augenblick dieses Tages und der Tage danach noch einmal durchlebte, begriff ich, dass mein Vater in diesem Moment von Dr. Egge die Art und das Ausmaß der Verletzungen erfahren hatte. An dem Tag selbst, als Clemence mich von meinem Vater trennte und mich wegbrachte, wusste ich nur, dass der Flur steil bergauf führte. Ich schleppte mich durch die Flügeltür und ließ Clemence mit meinem Vater reden. Ich verbrachte ungefähr eine halbe Stunde im Wartezimmer, bis Clemence kam und sagte, dass meine Mutter operiert werden würde. Sie hielt meine Hand. Wir starrten beide auf ein Bild an der Wand, auf dem eine junge Siedlerin am Berghang in der Sonne saß. Neben ihr lag ihr Kind im Schatten eines schwarzen Regenschirms. Wir waren uns einig, dass wir das Bild noch nie besonders gemocht hatten. Ab sofort würden wir es hassen, obwohl das Bild eigentlich nichts dafür konnte.
    Ich fahre dich besser heim, dann kannst du in Josephs Zimmer schlafen, sagte Clemence. Du kannst morgen von uns aus zur Schule gehen. Ich komme dann wieder her und warte hier.
    Ich war müde, mein Hirn tat mir weh, aber ich sah sie an wie eine Verrückte. Es war verrückt, zu glauben, dass ich in die Schule gehen würde. Nichts würde sein wie bisher. Die Steigung im Flur hatte mich an diesen Ort, in dieses Wartezimmer geführt, und hier würde ich warten.
    Du könntest wenigstens ein bisschen schlafen, sagte Tante Clemence. Das könnte wirklich nicht schaden. Dann vergeht die Zeit, und du musst dieses verdammte Bild nicht ansehen.
    War es eine Vergewaltigung?, fragte ich.
    Ja, sagte sie.
    Aber da war noch was, sagte ich.
    In meiner Familie reden sie nicht um den heißen Brei herum. Meine Tante war Katholikin, aber sie nahm trotzdem kein Blatt vor den Mund. Als sie antwortete, sprach sie flüssig und ebenmäßig.
    Vergewaltigung heißt erzwungener Sex. Ein Mann kann eine Frau dazu zwingen, Sex zu haben. Genau das ist passiert.
    Ich nickte. Aber ich wollte noch etwas anderes
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