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Das Haus der Madame Rose

Das Haus der Madame Rose

Titel: Das Haus der Madame Rose
Autoren: Tatiana de Rosnay
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Speiselokal. Du erinnerst Dich sicher, dass es immer voll war und dass Gäste selbst den weiten Weg vom rechten Seine-Ufer kamen, um das exquisite Kalbsragout zu kosten. Das Hotel Belfort stand stolz an der Ecke Rue Bonaparte und Rue Childebert, es hatte fünf Stockwerke, sechzehn Zimmer, sechsunddreißig Fenster und ein gutes Restaurant. Für Madame Paccard bedeutete der Verlust ihres Hotels den Verlust des Vermögens eines ganzen Lebens – alles, was ihr verstorbener Mann und sie erarbeitet und erreicht hatten. Ich weiß, dass sie es am Anfang nicht leicht gehabt hatten. Sie hatten Tag und Nacht geschuftet, um das Hotel zu renovieren und ihm den Ruf zu verleihen, den es schließlich hatte. Bei der Weltausstellung war es Woche für Woche ausgebucht.
    Doktor Nonant hatte ich noch nie so aufgebracht erlebt. Sein sonst so ruhiges Gesicht war wutverzerrt.
    »Ich werde alle meine Patienten verlieren, alle«, schäumte er, »alles, was ich mir in vielen Jahren aufgebaut habe. Meine Praxis im Erdgeschoss ist leicht zugänglich, es gibt keine steilen Treppen, mein Behandlungszimmer ist groß und hell, meine Patienten schätzen das. Und es sind nur ein paar Schritte zum Hospital in der Rue Jacob, wo ich auch praktiziere. Was soll ich denn jetzt tun? Wie kann der Präfekt davon ausgehen, dass ich mich mit einer lächerlichen Geldsumme abspeisen lasse?«
    Du musst wissen, Armand, dass es ein eigenartiges Gefühl war, in diesem Laden zu stehen und die anderen zu hören und dabei in meinem Innersten zu wissen, dass ich ihren Zorn nicht teilte. Es betraf mich nicht. Sie schimpften wegen dieses Geldes. Und alle sahen mich an und erwarteten, dass ich etwas sagte, dass ich als Witwe, die mit ihren beiden Ladenlokalen ihr ganzes Einkommen verlieren würde, meiner eigenen Angst Ausdruck gab. Aber wie sollte ich das erklären, Liebster? Wie sollte ich ihnen schildern, was es für mich bedeutete? Mein Schmerz, mein Leid – das war eine andere Welt. Es ging nicht um Geld. Nein. Mit Geld hatte das nichts zu tun. Es war das Haus, das ich vor meinem geistigen Auge sah. Unser Haus. Und wie sehr Du es liebtest. Was es Dir bedeutete.
    Mitten in diesem ganzen Aufruhr hatten Madame Chanteloup, die dralle Wäscherin aus der Rue des Ciseaux, und Monsieur Presson, der Kohlenhändler, einen spektakulären Auftritt. Madame Chanteloup, purpurrot vor Aufregung, verkündete, dass einer ihrer Kunden auf der Präfektur arbeitete und sie eine Kopie des Plans und des Verlaufs des neuen Boulevards gesehen hätte. Die zum Abriss verurteilten Straßen in unserem Viertel wären folgende: Rue Childebert, Rue d’Erfurth, Rue Sainte-Marthe, Rue Sainte-Marguerite, Passage Saint-Benoît.
    »Und das heißt«, kreischte sie triumphierend, »dass meine Wäscherei und Monsieur Pressons Kohlenhandlung nicht gefährdet sind. Die Rue des Ciseaux wird nicht zerstört!«
    Ihre Worte wurden mit Stöhnen und Seufzen aufgenommen. Mademoiselle Vazembert starrte sie voller Verachtung an und rauschte hoch erhobenen Hauptes aus dem Laden. Ihre Absätze klapperten die Straße hinunter. Ich erinnere mich, wie bestürzt ich war, dass auch die Rue Sainte-Marguerite, wo ich geboren wurde, dem Untergang geweiht war. Doch die wahre Sorge, die an mir zehrte und mich seitdem mit Angst erfüllte, betraf den Abriss unseres Hauses. Die Zerstörung der Rue Childebert.
    Es war noch nicht Mittag. Einige hatten ein bisschen zu viel getrunken. Monsieur Monthier fing wieder an zu weinen, ein kindliches Schluchzen, das mich abstieß, zugleich aber auch anrührte. Monsieur Helders Schnauzbart hüpfte wieder auf und ab. Ich ging zurück zu unserem Haus, wo Germaine und Mariette in banger Sorge auf mich warteten. Sie wollten wissen, was nun aus ihnen werden sollte, aus uns, aus dem Haus. Germaine war auf dem Markt gewesen. Alle sprachen über die Briefe und die Enteignungsverfügung. Darüber, was dies für unser Viertel bedeutete. Der Gemüsehändler mit seinem klapprigen Leiterwagen hatte nach mir gefragt: Was will Madame Rose nun tun?, wollte er wissen. Wo wird sie hingehen? Germaine und Mariette waren ganz durcheinander.
    Ich zog Hut und Handschuhe aus und bat Mariette, das Mittagessen zu kochen. Eine einfache, leichte Mahlzeit. Eine Seezunge vielleicht, weil Freitag war? Germaine strahlte – genau das hatte sie gerade am Fischstand besorgt. Die beiden trippelten in die Küche, und ich setzte mich hin, noch immer ganz ruhig, und nahm mir wie jeden Tag Le Petit Journal vor. Nur dass ich kein Wort
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