Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Handwerk des Toetens

Das Handwerk des Toetens

Titel: Das Handwerk des Toetens
Autoren: Norbert Gstrein
Vom Netzwerk:
zumindest behauptete er das, es war immer zu spät, er war nicht mehr jung, und wenn ich hörte, wie ihn die Möglichkeit quälte, sich in den Jahren davor irgendwann einmal mit ihr am gleichen Ort aufgehalten zu haben, ohne es zu wissen, eine Straße hinauf- oder hinuntergegangen zu sein, und sie war auf der anderen Seite an ihm vorbeigelaufen, oder sie irgendwo nur um ein paar Minuten verfehlt zu haben, tat es auch mir weh. Er war so versessen auf all die verpaßten Gelegenheiten, daß ihm nicht zu helfen war, es wirkte auf mich wie ein Wettlauf, den er nur verlieren konnte, dazu noch wie einer im Zickzack, der auf der Landkarte ein wirres Gekritzel abgegeben hätte, Striche, die alles auslöschen sollten, was davor gewesen war, und mit ihrer ständigen Gegenwart überschreiben. Wenn er damit anfing, er sei gerade in die Schule gekommen, als sie geboren wurde, und mich verwundert ansah, weil mich das nicht weiter beeindruckte, schwieg ich, und er ließ sich nicht bremsen, bevor er in dem Pariser Hotel angelangt war, ohne das eine solche Geschichte nicht auskam, hörte nicht auf, von einem Abendessen im Marais zu schwärmen, und wie er sie dabei nicht aus den Augen gelassen hatte, so fremd war sie ihm erschienen. Dazu paßte die Zigarre, die er mit ihr gemeinsam geraucht hatte, und wie er sich selbst ertappte, daß er die Blicke der Kellner genoß, ohne einen Anflug von Scham, oder wie sie ihn dann festgehalten hatte im Bett, fast über den Rand gedrängt, und ihre kräftigen Schultern, und wenn er auch klischeehaft, in festen Schablonen erzählte, konnte ich mir vorstellen, wie er mitten in der Nacht am Fenster gestanden war und hinausgeschaut hatte, ich konnte den Regen hören, die eiligen Schritte einer Frau drunten auf dem Pflaster, die in der Ferne verklangen, konnte den Mann im Haus gegenüber sehen, der im Unterhemd auf dem Badewannenrand gesessen war, und wußte, was er mit seinen Beschwörungen meinte, es hätte alles stehen bleiben sollen, in dem Augenblick, stehen bleiben und nicht mehr weitergehen, nur ihr Atem in der Tiefe des Zimmers, das kaum hörbare Ein und Aus, und wie sie nach ihm gerufen hatte, ein weißer Schatten in der Dunkelheit, wie er sagte.
    Die nächste Station war dann schon Hamburg gewesen, weil sie dort lebte, und vielleicht lag es an seiner widerstandslosen Hingabe, seiner Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, sich nur treiben zu lassen, daß ich mich fragte, was er wohl den ganzen Tag tat, nachdem wir uns trennten. Es hatte nicht den Anschein, als würde er an etwas arbeiten, und ich erkundigte mich nie, erschienen jedenfalls war in den Wochen, in denen wir uns regelmäßig sahen, nichts von ihm, zumindest nicht daß es mir aufgefallen wäre, und er war auch kein einziges Mal weggefahren. Dabei hieß das allein nichts, hatte er mir doch erklärt, daß er längst viele seiner Reiseberichte zusammenstellte, ohne sich vom Ort zu bewegen, weil er es leid war, sich sagen zu lassen, es sei zu trist, was er schrieb, niemand wolle das lesen, und sich auf die gängige Formel beschränkte, freundliche Leute, sonnige Länder und ein bißchen Exotik, ein bißchen Folklore, die er immer und überall anwenden konnte, mochte der Weltuntergang bevorstehen oder nicht.
    Für mich kam es trotzdem nicht unerwartet, daß er schließlich ein paar Tage ausblieb. Ich dachte schon, damit hatte es sich, er war genauso unangekündigt verschwunden, wie er aufgetaucht war, und ich konnte in Zukunft am Morgen wieder ungestört die Zeitungen lesen, ertappte mich dann jedoch dabei, wie ich auf die Uhr schaute und wartete, ob er sich vielleicht doch noch einfinden würde. Nicht daß ich ihn wirklich vermißt hätte, aber als er schließlich bei mir anrief, ging ich ohne zu zögern auf seinen Vorschlag ein, uns noch am selben Abend zu treffen, und da war es, daß ich Helena zum ersten Mal sah.
    Wir hatten uns in einem Lokal am Neuen Pferdemarkt verabredet, und ich war vor ihnen da. Ich hatte einen Fensterplatz gewählt und entdeckte sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite, und mir fiel sofort ihre Ähnlichkeit auf, sie hätten Geschwister sein können, ein Eindruck, der später nicht nur einmal bestätigt wurde, wenn ich gemeinsam mit ihnen unter Leuten war, die gleichen Augen, hieß es, der gleiche Blick, das gleiche offene Gesicht, was auch immer das bedeuten mochte. Obwohl es gerade zu nieseln begann, blieben sie stehen, während die Fußgängerampel mehrmals umschaltete und die Leute links und rechts an
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher