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Das Geheimnis Des Amuletts

Das Geheimnis Des Amuletts

Titel: Das Geheimnis Des Amuletts
Autoren: Gillian Shields
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Helen vom Angesicht der Welt gewischt worden waren, hatte ich plötzlich einen Gedanken; eine Hoffnung, dass vielleicht ein paar der Bilder, die sie gemalt hatte, vergessen worden sein könnten und dass sie noch in irgendeiner Mappe steckten. Ich musste wieder spüren, dass sie mir nah war, ich wollte etwas anfassen, das sie angefasst hatte. Ich beschleunigte meinen Schritt und betrat den Kunstraum. Er war leer, als ich mich daranmachte, auf den Regalen nachzusehen und in den breiten Schubladen nach irgendeinem Schnipsel zu suchen, der von Helens Arbeit übrig geblieben sein mochte.
    Ich fand nichts. Aber als ich gerade aufgeben wollte, drehte ich ein letztes Blatt um. Es war die wunderschöne Zeichnung eines Engels – groß und anmutig mit sanft angelegten Flügeln. Der Engel trug ein Instrument, das eine schlanke Flöte sein mochte, und er hatte das Gesicht von Helen Black. Ich schnappte geräuschvoll nach Luft, dann hörte ich leise Schritte hinter mir.
    »Gefällt sie dir?« Miss Hetherington lächelte. »Die Dorfbewohner haben zusammengelegt, um die Statue zu ersetzen. Die auf Agnes’ Grab, die in der Nacht des Brandes zerstört worden ist. Der Vikar weiß nicht, ob es Vandalismus oder ein Unfall war, aber im Dorf herrscht die starke Überzeugung, dass es wieder in Ordnung gebracht werden sollte. Man hat mich gebeten, ein paar Zeichnungen für eine mögliche neue Statue anzufertigen.«
    »Sie ist wunderschön«, sagte ich verwundert. »Aber dieses Gesicht … ist es jemandem nachempfunden, den Sie kennen?« Miss Hetherington sah mich lange abschätzend an, dann sagte sie weich: »In unseren Träumen begegnen wir vielen Menschen, Evie. Und sie bleiben bei uns. Vergiss das nie.«
    Sie bleiben bei uns … In diesem Moment wusste ich, dass Helen, ganz egal, wo sie sich aufhalten mochte, auch immer noch bei mir war. Jetzt und jetzt und jetzt … Und zum ersten Mal seit dem Feuer empfand ich wirklich Frieden.
    Später an diesem Tag rief Miss Hetherington alle Schülerinnen und die Lehrerschaft zu einer Versammlung in den Speisesaal. Ich war neugierig, was sie sagen würde, als sie mit klarer, fester Stimme erklärte: »Die Abteischule Wyldcliffe für Junge Ladys – diese berühmte Schule, die unser Zuhause ist – hat dunkle Zeiten durchlebt. Nach all den Schwierigkeiten der letzten paar Monate haben wir jetzt auch noch ein geschätztes Mitglied unseres Lehrkörpers verloren, Mr. Brooke, der plötzlich erkrankt ist, wie auch die Lehrerinnen, die im Feuer auf tragische Weise umgekommen sind. Aber obwohl wir sie mit Respekt und Traurigkeit in Erinnerung behalten werden, dürfen wir nicht vergessen, dass diese Schule und jede Einzelne von euch noch eine strahlende Zukunft vor sich hat. Es war ein Wunder, dass niemand von euch Mädchen im Feuer ernsthaft verletzt worden ist. Es kommt mir so vor, als hätten wir alle eine zweite Chance im Leben erhalten. Es ist unsere Pflicht, diese Chance mit Dankbarkeit und Freude anzunehmen.
    Es mag seltsam erscheinen«, sprach sie ruhig weiter, »in einer solchen Zeit von Freude zu sprechen, aber ich bin sicher, dass diejenigen, die uns verlassen haben, nicht wollen würden, dass unser Leben von Trauer überschattet wird. Ich denke vor allem an Miss Miriam Scratton, die ich ebenso wie ihr hier in Wyldcliffe kennenlernen durfte.« Sie sah mich einen Moment an, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. »Ich habe Miss Scratton aus ganzem Herzen in ihren Plänen unterstützt, diese Schule zu reformieren. Vor noch gar nicht so langer Zeit hat Miriam genau an dieser Stelle gestanden und zu uns über die Notwendigkeit gesprochen, das Licht nach Wyldcliffe hereinzulassen. Das beste Andenken, das wir jenen, die wir verloren haben, gewähren können, besteht darin, ihre Pläne umzusetzen und ohne Angst in die Zukunft zu gehen. Und daher wird es einige Veränderungen geben.«
    Die Mädchen sahen einander erwartungsvoll an. Wie viele von ihnen waren wirklich bereit für einen Wandel?, fragte ich mich. Wollten sie alle noch »junge Ladys« sein, oder genügte die Herausforderung, in dieser sich ständig verändernden Welt zu einer Frau heranzuwachsen, um sie zufriedenzustellen?
    »In diesem Jahr«, sagte Miss Hetherington, »wird es am Todestag von Lady Agnes Templeton keine Gedenkprozession geben.« Ringsum wurde überrascht nach Luft geschnappt. »Natürlich werden wir uns in Ehren an Agnes erinnern, aber nicht mit traurigen Liedern und Paraden, die der Vergangenheit zugewandt sind.
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