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Das Geheimnis der Salzschwestern

Das Geheimnis der Salzschwestern

Titel: Das Geheimnis der Salzschwestern
Autoren: Tiffany Baker
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Dienstag.« Und damit machte sie auf ihrem guten Absatz kehrt.
    »Lästige alte Vogelscheuche«, murmelte der Mann. Dann winkte er seine Tochter heran und schickte sie noch einmal die Leiter hinauf. »Mehr nach rechts. Nein, nach rechts!«, hörte Jo ihn knurren.
    Gut, im Moment wollten sie ihr Salz nicht, aber das überraschte Jo nicht. Sie wussten es nun mal nicht besser. Für sie war ihre Ware vermutlich so gewöhnlich wie Hausstaub, dachte Jo, und ebenso nützlich. Die Absage bereitete ihr jedoch keine Bauchschmerzen. Sie musste den Pitmans nur etwas Zeit geben – das war alles. Geduld ist eine Tugend, mahnte sie sich selbst, ließ den Motor ihres alten Trucks an und fuhr los. Und das war gut so, denn zurzeit blieb ihr außer Geduld nicht mehr viel.
    Als Jo zu Hause ankam, ging die Sonne bereits unter, der Abend war aber immer noch mild, richtig schön. Statt des üblichen Schellack-Graus erinnerte die Farbe des Himmels eher an poliertes Holz, die Luft waberte golden und sanft. Jo glaubte ganz fest an den Himmel. Denn zum einen war er ihr einziger Begleiter, zum anderen log er nie. Wenn Ärger ins Haus stand, dann warnten Wind und Wolken Jo alsbald, vielleicht deshalb, weil sie in einer stürmischen Nacht geboren wurde. Solches Wetter hatte sie auf die Welt begleitet und würde einst, so hoffte sie, auch ihren Abgang untermalen. Allerdings wünschte sie sich, rechtzeitig davor gewarnt zu werden. Sie betrachtete die Marsch, ließ den Blick über ihre strudelnde Ordnung wandern: der Hauptgraben, der die Salinen vom Meer abschnitt, die Überschwemmungsbecken, die kleineren Rinnen und schließlich die Verdunstungsbassins, die in Reihen mitten in der ganzen Anlage ruhten, das stets wachsende und schrumpfende Herz der Marsch.
    Zu dieser Jahreszeit war der Schlamm so alkalisch, dass er in Mikroorganismen schwelgte: Die Becken zeigten sich in leuchtendem Lila oder Kupfergrün, und nur ein einziges war blutrot. Das war das Becken von Henry – Jos Zwillingsbruder, der im Alter von acht Jahren ertrunken war. Jedes Jahr häufte Jo das purpurfarbene Salz auf seinem Grab auf. Sie wusste nicht, was sie sonst damit tun sollte. Verkaufen konnte sie es schließlich nicht, und selbst benutzen wollte sie es auch nicht. Das käme ihr so vor, als ob sie sich an ihrem eigenen Fleisch und Blut vergriff.
    Hinter Henrys Becken lag die Scheune und daneben die kleine Wiese mit dem Familienfriedhof der Gillys. Auf diesem Gottesacker, der vor vielen Jahren gesegnet worden war, um ihre leblosen Körper zu empfangen, lagen nur Knaben begraben. Weil der Tod das Leben umfängt, hatte ihre Mutter ihr erklärt, Jo dachte jedoch oft, dass es vielmehr umgekehrt war und das Leben den Tod umarmte. Warum sollte man denn sonst einen schönen Sonntagsbraten genießen oder das Vogelgezwitscher an einem Sommerabend oder ein Weihnachtslied oder sonst irgendetwas? Aber vielleicht, dachte Jo, konnte sie das sagen, weil sie durchs Feuer gegangen war. Seit dem Unfall empfand sie alles schärfer und klarer: das Brennen der Luft auf ihrer zerfurchten Haut, den Wechsel der Jahreszeiten. Die Farbe blühender Frühlingsblumen konnte sie völlig sprachlos machen, und der Herbst … na ja, im Herbst war sie so einsam und verfroren, dass sie am liebsten nur noch weinen wollte, wenn der Wind über das Land fegte und die Blätter mit sich riss. Wenn dieses Gefühl Jo ergriff, dann ging sie zu den Gräbern hinüber und ruhte sich dort ein Weilchen aus. Auch wenn das irgendwie seltsam klang, tröstete dieser Ort sie doch immer wieder, wenn ihr Traurigkeit die Kehle zuschnürte. Es machte ihr Mut, daran erinnert zu werden, dass es auf der Welt etwas noch Härteres und Kälteres gab als den Winterhimmel am Kap.
    Um solche Dinge brauchte Claire sich natürlich keine Gedanken zu machen. Sie war jetzt eine Turner, und für die Turners waren die Aussichten immer um einiges rosiger. Dazu musste man sich nur ihr Haus ansehen, diesen riesigen monströsen Kasten, der mit all den schiefen Veranden und Erkerfenstern oben auf Plover Hill thronte. Im Laufe der Generationen hatten sich die Turners dort die Kapversion eines Schlosses errichtet. Es bestand aus so verdammt vielen Zimmern, dass Jo sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wofür Whit und ihre Schwester sie alle brauchten. Aber so waren die Turners eben, sie bissen immer mehr ab, als sie kauen konnten. Jo wusste, dass es in letzter Zeit auch für Whit und Claire nicht so gut gelaufen war, dennoch standen sie immer ein
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