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Das Geheimnis der Äbtissin

Das Geheimnis der Äbtissin

Titel: Das Geheimnis der Äbtissin
Autoren: Johanna Marie Jakob
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einer schwach blutenden Wunde ein heller Knochen herausstieß. Einige Frauen schrien auf, die meisten jedoch schwiegen entsetzt. Ein so komplizierter Bruch führte oft dazu, dass das Bein steif blieb und der Verletzte sein Leben lang unter großen Schmerzen hinken musste.
    In den hinteren Reihen der Heimkehrer entstand Unruhe. Ein junger Mann mit schwarz glänzendem Haar und mandelförmigen Augen drängte sich durch die dicht stehende Menge. »Lasst mich durch! Geht beiseite!« Das Gesinde machte nur unwillig Platz. Seine dunkle Haut sorgte für Verwirrung und fragende Gesichter. Staunende Blicke musterten seine Beinkleider, deren Stoff golden schimmerte und die sich wie Getreidesäcke um seine Beine plusterten. Ohne sich einschüchtern zu lassen, schaffte er sich Durchlass mit seinen Ellbogen.
    Als er endlich vor dem Jungen stand, genügte ein einziger Blick. »Lasst ihn in die Kemenate bringen, Herr. Ich brauche heißes Wasser und eine kräftige Magd, die mir hilft.« Er sprach die Worte mit einem fremdartigen Klang, doch seine Stimme war fest.
    Unter den Leuten entstand Gemurmel. Wer war dieser Fremde, der es wagte, dem Grafen Befehle zu erteilen?
    »Er kam im Tross des Kaisers an, vielleicht ein Diener der jungen Prinzessin?«, mutmaßte die Frau des Mundschenks halblaut.
    »Der alte König Konrad brachte ihn vom Kreuzzug mit, er soll ein guter Arzt sein«, raunte ein hagerer Stallknecht, der nicht weit von ihr stand.
    »Woher weißt du das?«
    »Von den Waffenknechten des Kaisers, die die Pferde brachten. Da war ein Hengst dabei – noch nie habe ich so ein Pferd gesehen. Seine Knochen sind so zart wie die einer Katze. Sein Fell glänzt, als wäre es nass. Sie sagten, es gehöre dem Mauren.« Er sprang eilfertig nach vorn, als Friedrich von seinem Schimmel stieg, und fing die Zügel auf.
    »Ihr könnt ihm vertrauen. Er ist mein Leibarzt«, sagte der Kaiser zum Grafen.
    Mit gezackten Fängen griff der erste Blitz nach dem Bergfried, es folgte ein gewaltiger Donnerschlag, der den Hof binnen weniger Augenblicke leer fegte.
    Im Saal drängte alles zum Tisch. Lautstark versuchten die Männer einen guten Platz auf den Bänken entlang der Tafel zu erwischen. Judith schob sich zwischen den Leibern hindurch, bis sie ihren Vater erreicht hatte, der den Kaiser und seine engeren Vertrauten zur Mitte des Tisches begleitete.
    »Vater, seht, ich habe ein Geschenk für Euch!« Sie hielt ihm strahlend das Tüchlein entgegen, auf dem dank Katharinas Hilfe ein roter Löwe aus kleinen gestickten Kreuzen seine Tatzen erhob.
    »Jetzt nicht, Judith, du siehst doch, ich habe zu tun. Geh nach oben, kümmere dich um deinen Bruder.« Er strich ihr flüchtig über den Kopf und wandte sich ab. »Edle Dame, Durchlaucht, wenn Ihr hier Platz nehmen würdet, ich bitte Euch!«
    Ein dicker Kloß saß ihr in der Kehle, während sie sich von Katharina die Wendeltreppe hinaufziehen ließ. In der freien Hand knüllte sie das Tuch mit dem rotgestickten Löwen. Beringar hing auf dem Arm der Amme und heulte unablässig. Nicht das Entsetzen über die schlimme Verletzung ihres Bruders rumorte in ihr, es war die Gewissheit, dass sich jetzt wieder einmal alles um ihn drehen würde. Ihr Vater hatte sie nicht einmal richtig begrüßt.
    In der Kemenate bereiteten zwei Mägde hastig ein Lager für den verletzten Jungen. Der dunkelhäutige Mann kramte in einer großen Tasche aus schwarzem Leder. Suchend sah er sich um.
    »Heißes Wasser?«, fragte er. Seine Stimme klang wie eine fremde Melodie.
    Katharina hatte mit dem schluchzenden Beringar vollauf zu tun. Sie wiegte ihn in den Armen und redete leise auf ihn ein.
    Judith starrte fasziniert auf das tiefschwarze Haar des Mannes, das ihm glatt und glänzend bis auf die Schultern fiel. Seine Haut war so braun wie das Fell eines Rehs, doch am erstaunlichsten erschienen ihr seine Augen. Sie waren dunkel und unergründlich wie der Burgbrunnen bei Nacht, und tatsächlich glaubte sie in seinem Blick zu versinken, als er sie jetzt ansah. Er bemerkte ihre Erstarrung und lächelte ein wenig, dann legte er seine rechte Hand auf sein Herz und neigte den Kopf.
    Sie spürte, wie ihr flammende Röte ins Gesicht schoss. Wie konnte sie sich derart vergessen? »Warte! Ich hole Wasser«, krächzte sie und wandte sich hastig zur Treppe. Im Saal sah sie den Kaiser auf dem Ehrenplatz in der Mitte der Tafel sitzen. Sein Gefolge lümmelte sich laut schwatzend auf den langen Bänken. Der Duft frischer Kräuter im Bodenstroh wurde von
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