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Das Fremde Mädchen

Das Fremde Mädchen

Titel: Das Fremde Mädchen
Autoren: Ellis Peters
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Dach begann sich zu bewegen, rutschte in dicken Falten in sich zusammen und fiel teils auf die Planken des Gerüsts und die aufgestapelten Schieferplatten und teils über die Dachkante hinweg auf den Boden. Die Lawine war nicht beabsichtigt gewesen, doch die gefrorene Masse löste sich vom steilen Dach, prallte als massiver Block auf das Gerüst und ließ es erzittern. Haluin hatte sich zu weit vorgebeugt. Die Leiter rutschte dem Schnee, der sie gehalten hatte, hinterher, eher vor der Leiter als nach ihr prallte Haluin auf das Ende der Planken und stürzte dann ganz hinab in den überfrorenen Graben, ohne einen Laut von sich zu geben.
    Leiter und Lawine trafen wie er auf die Planken des Gerüsts und warfen ihm einen Schauer schwerer, scharfkantiger Schieferplatten hinterher, die tief in sein Fleisch einschnitten.
    Bruder Conradin, der direkt unter dem Gerüst beschäftigt gewesen war, konnte im letzten Augenblick zur Seite springen, für den Augenblick vom herabfallenden Schnee fast geblendet.
    Bruder Urien war ein Stück zurückgetreten und hatte innegehalten, gerade als er seinen Gefährten warnen wollte, weil das Licht inzwischen zu schlecht war. Statt dessen, da jede Rettung zu spät kam, stieß er einen Schrei aus und sprang vor, wurde aber dennoch von der Lawine halb verschüttet.
    Sie schüttelten den Schnee ab und trafen gleichzeitig bei Bruder Haluin ein.
    Es war Bruder Urien, der in grimmigem Schweigen eilig nach Cadfael suchte, während Conradin in die andere Richtung über den großen Hof rannte und den ersten Bruder, der ihm über den Weg lief, nach Bruder Edmund, dem Krankenwärter schickte. Cadfael war in seiner Hütte gerade damit beschäftigt, die Kohlenpfanne für die Nacht abzudecken, als Urien hereinplatzte, ein dunkler, ernster Mann, der schlimme Neuigkeiten zu verkünden hatte.
    »Bruder, kommt schnell! Bruder Haluin ist vom Dach gefallen!«
    Cadfael, wortkarg wie Urien, fuhr herum, ließ die letzten Torfbrocken fallen und langte sich eine Wolldecke vom Regal.
    »Tot?« Das Dach war wenigstens vierzig Fuß hoch, Haluin mußte im Fall auf Holzbalken geprallt und unten auf das harte Eis geschlagen sein. Wenn er aber etwas glücklicher in den tiefen Schnee gestürzt war, der durch die Lawine vom Dach noch tiefer geworden war, dann mochte er es überlebt haben.
    »Er atmet, aber wie lange noch? Conradin holt Hilfe, Edmund ist inzwischen sicher schon unterrichtet.«
    »Kommt!« sagte Cadfael nur, und schon war er zur Tür hinaus und rannte zur kleinen Brücke, die über den Graben führte. Dann aber überlegte er es sich anders und wandte sich zum kleinen Weg zwischen der Abtei und den Teichen, um am Ende des Weges über den Graben zu springen und den Weg zu Haluin abzukürzen. Vom großen Hof aus näherte sich der Schein zweier Fackeln. Bruder Edmund kam, Bruder Conradin hart auf den Fersen, mit einigen weiteren Helfern und einer Trage.
    Bruder Haluin, bis zu den Knien unter schweren Schieferplatten begraben, lag, während sein Blut das Eis unter seinem Kopf färbte, totenstill inmitten des Tumults, den er ausgelöst hatte.

2. Kapitel
    So gefährlich es auch war, ihn zu bewegen, ihn auch nur einen Moment länger dort zu lassen, wo er lag, hätte bedeutet, den Tod, der ihn schon fest in seinem Griff hielt, einzuladen und ihm Tür und Tor zu öffnen. In stummer, zielstrebiger Eile räumten sie die heruntergestürzten Planken fort und gruben mit bloßen Händen die messerscharfen Schieferplatten aus, die seine Füße und Knie zu einer Masse aus Blut und Knochen zerschmettert und zerfetzt hatten. Er war bewußtlos und spürte nichts, als sie ihn aus dem eisigen Bett des Grabens hoben, um Seilschlingen um ihn zu legen und ihn auf die Trage zu heben.
    Wie in einem Trauerzug trugen sie ihn durch die dunklen Gärten in die Krankenstation, wo Bruder Edmund bereits in einer kleinen Zelle, getrennt von den alten und kranken Brüdern, die hier ihre letzten Jahre verbrachten, ein Lager für ihn bereitet hatte.
    »Er wird es nicht überleben«, meinte Edmund, als er das bleiche, leblose Gesicht sah.
    Das dachte auch Cadfael. Alle dachten es. Aber dennoch, er atmete, und selbst wenn es ein rasselnder, stöhnender Atem war, der von Verletzungen sprach, die vielleicht nie wieder heilen würden, sie arbeiteten an ihm wie an einem, der leben konnte und mußte, auch wenn sie sich innerlich der Vergeblichkeit bewußt waren. Unendlich behutsam und sachte befreiten sie ihn von seinen vereisten Kleidern und polsterten ihn
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