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Das Fremde Mädchen

Das Fremde Mädchen

Titel: Das Fremde Mädchen
Autoren: Ellis Peters
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oder keine andere Wahl hatten, mühsam über die Wege zogen, hatte Bruder Conradin sein Gerüst aufgebaut und die Leitern sicher auf dem geneigten Dach verankert. Die Helfer wechselten sich droben in der Eiseskälte ab und räumten vorsichtig die Schneemassen fort, um zum gebrochenen Blei und den geborstenen Schieferplatten zu gelangen. Unten am überfrorenen Abflußgraben sammelte sich ein Wall aus schmutzigem, pappigem Schnee, und ein unachtsamer Bruder, der den Warnruf von oben nicht gehört oder sich nicht darum geschert hatte, wurde von einer kleinen Lawine verschüttet.
    Man grub ihn eilig aus und schickte ihn in den Wärmeraum, wo er auftauen konnte.
    Inzwischen war der Weg zwischen Stadt und Vorstadt wieder frei. Zunächst noch zögerlich und langsam, konnten die Neuigkeiten aus Winchester endlich bis Shrewsbury vordringen, wo sie einige Tage vor Weihnachten die Garnison auf der Burg und den Sheriff der Grafschaft erreichten.
    Hugh Beringar machte sich unverzüglich auf den Weg zur Abtei, um auch Abt Radulfus zu informieren. In diesem Land, das seit fünf Jahren von einem unberechenbaren Krieg geschüttelt wurde, war es für Staat und Kirche angebracht, eng zusammenzuarbeiten. Wenn Sheriff und Abt am gleichen Strang zogen, konnten sie ihren Leuten ein vergleichsweise ruhiges und geordnetes Leben gewährleisten und die schlimmsten Auswüchse der Zeit von ihnen fernhalten. Hugh war König Stephens Mann, der für seinen Herrscher die Grafschaft treu verwaltete, doch noch größer war seine Treue für die Menschen, die in diesem Land lebten. Er hätte sich über den Sieg des Königs gefreut, mit dem in diesem Herbst und Winter jeder gerechnet hatte, doch sein wichtigstes Anliegen war es, dem König, sobald die letzte Schlacht geschlagen war, die Grafschaft relativ wohlhabend, befriedet und intakt zu übergeben.
    Er suchte Bruder Cadfael sofort auf, nachdem er die Gemächer des Abtes verlassen hatte, und fand seinen Freund in der Hütte im Herbarium eifrig damit beschäftigt, in einem blubbernden Topf auf der Kohlenpfanne zu rühren. Die unvermeidlichen Hustenanfälle und Erkältungen des Winters, die Frostbeulen an Händen und Füßen, sie hielten ihn ständig damit beschäftigt, den Arzneischrank in der Krankenstation nachzufüllen, und dank der dafür notwendigen Kohlenpfanne war seine Holzhütte ein etwas wärmerer Arbeitsplatz als die Nischen des Skriptoriums.
    Hugh kam mit einem Schwall kalter Luft und in sichtlicher Aufregung hereingeplatzt, auch wenn die äußeren Zeichen seiner Unruhe jedem entgangen wäre, der ihn weniger gut kannte als Cadfael. Doch seine angestrengten Bewegungen und die knappe Begrüßung veranlaßten Cadfael, mit Rühren aufzuhören und das Gesicht des Sheriffs, die funkelnden Augen und die zuckende Ader auf seiner Wange, genau zu betrachten.
    »Alles hat sich wieder gewendet!« sagte Hugh. »Nun geht es wieder von vorne los!« Was er damit auch meinen mochte, Cadfael schenkte sich die Frage, weil er es ohnehin gleich erfahren würde. Es hatte fast den Anschein, als siegte in Hughs Gesicht nun eine amüsierte Erleichterung über Verzweiflung und Verdrossenheit. Er setzte sich schwer auf die Bank an der Holzwand und ließ in hilfloser Resignation die Hände zwischen den Knien hängen.
    »Heute morgen ist ein Bote aus dem Süden durchgekommen«, begann er, indem er den aufmerksamen Blick des Freundes erwiderte. »Sie ist fort! Aus der Falle entkommen und zu ihrem Bruder nach Wallingford geflohen.
    Der König hat sein Unterpfand verloren. Er hatte sie in der Hand, doch er ließ sie durch die Finger gleiten. Ich frage mich wirklich«, erklärte Hugh, indem er angesichts dieses neuen Gedankens die Augen weit aufriß, »ob er nicht beide Augen zudrückte und sie gehen ließ, als es hart auf hart kam. Es sähe ihm ähnlich. Gott weiß, er wollte sie unbedingt fassen, aber vielleicht bekam er es mit der Angst, als er sich überlegen mußte, was er mit ihr anfangen sollte, nachdem er sie gefangen hatte. Das ist eine Frage, die ich ihm wirklich gern stellen würde, und ich weiß doch genau, daß ich es niemals tun werde«, schloß er mit schiefem Grinsen.
    »Wollt Ihr mir etwa erzählen«, fragte Cadfael vorsichtig zurück, während er ihn über die Kohlenpfanne hinweg anstarrte, »daß die Kaiserin aus Oxford geflohen ist? Umstellt von der Armee des Königs, die Vorräte in der Burg bis auf den letzten Krümel verzehrt? Wie soll ihr das gelungen sein? Als nächstes werdet Ihr mir noch
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