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Das fremde Gesicht

Titel: Das fremde Gesicht
Autoren: Mary Higgins Clark
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die Augen. All die Reporter waren müde. Seit dem frühen Nachmittag waren sie im Gericht gewesen und hatten auf das Urteil in einem Unterschlagungsprozeß gewartet. Um neun Uhr, als sie gerade abziehen wollten, kam der Anruf, sie sollten über den Überfall berichten. Jetzt war es bald elf. Der frische Oktobertag war einer verhangenen Nacht gewichen, die einen unwillkommenen frühen Winter verhieß.
    Es herrschte reger Betrieb in dem Krankenhaus. Junge Eltern mit einem blutenden Kleinkind auf den Armen wurden am Anmeldeschalter vorbei durch die Tür zum Untersuchungsbereich gewiesen. Leidtragende eines Autounfalls, mit Prellungen und sichtbar mitgenommen, trösteten einander, während sie auf ihre medizinische Versorgung warteten.
    Draußen verstärkte das unablässige Aufheulen ankommender und abfahrender Krankenwagen die vertraute Kakophonie des New Yorker Verkehrs.
    Eine Hand berührte Meghan am Arm. »Na, wie geht’s denn so, Frau Anwältin?«
    Es war Jack Murphy von Channel 5. Seine Frau hatte mit Meghan an der New York University Jura studiert.
    Meghan Collins, Doktor der Rechte, hatte ein halbes Jahr bei einer Kanzlei an der Park Avenue gearbeitet, dann gekündigt und bei dem Rundfunksender WPCD eine Stelle als Nachrichtenreporterin bekommen. Sie war jetzt seit drei Jahren dort, und im letzten Monat hatte PCD
    Channel 3, der angeschlossene Fernsehsender, sie regelmäßig ausgeliehen.
    »Soweit ganz gut, denke ich«, entgegnete ihm Meghan.
    Ihr Piepser meldete sich.
    »Komm bald mal zu uns zum Essen«, sagte Jack. »Ist schon so lange her.« Er ging wieder zu seinem Kameramann, während sie nach ihrer Tasche griff, um das Funktelefon herauszuholen.
    Der Anruf kam von Ken Simon in der
    Nachrichtenzentrale von WPCD. »Meg, der Ambulanz-Spezialempfänger hat gerade einen Krankenwagen aufgespürt, der zum Roosevelt fährt. Opfer mit Stichwunden, Ecke Sechsundfünfzigste Straße und Zehnte. Kümmer’ dich drum.«
    Der ominöse Ieee-Oooah-Ton eines sich nähernden Rettungswagens fiel mit dem Stakkato-Getrappel hastender Füße zusammen. Das Traumatologie-Team war auf dem Weg zum Eingang der Notaufnahme. Meg stellte das Telefon ab, steckte es in ihre Tasche und folgte der leeren Krankentrage, die zu der halbkreisförmigen Auffahrt geschoben wurde.
    Die Ambulanz kam quietschend zum Stehen. Erfahrene Hände halfen eilends, das Opfer auf die Bahre zu legen.
    Eine Sauerstoffmaske wurde über das Gesicht der Frau gestülpt. Das Tuch, das ihren schlanken Körper bedeckte, war voller Blut.
    Wirres haselnußbraunes Haar betonte noch die bläuliche Blässe ihres Halses.
    Meg rannte zur Fahrertür. »Irgendwelche Zeugen?«
    fragte sie rasch.
    »Hat sich niemand gemeldet.« Das Gesicht des Fahrers war von Erschöpfung gezeichnet, seine Stimme sachlich.
    »Da ist ein Durchgang zwischen zwei dieser alten Mietshäuser bei der Zehnten. Ist wohl einer von hinten gekommen, hat sie da reingestoßen und auf sie eingestochen. Ist wahrscheinlich blitzschnell passiert.«
    »Wie schlimm ist sie dran?«
    »Könnte nicht schlimmer sein.«
    »Irgendein Hinweis, wer sie ist?«
    »Nichts. Sie ist beraubt worden. Wahrscheinlich irgend so ein Fixer, der was zum Drücken gebraucht hat.«
    Die Bahre wurde hineingerollt. Meghan huschte zurück und hinterher in die Notaufnahme.
    Einer der Reporter schnauzte: »Der Arzt des Senators gibt jetzt ’ne Stellungnahme ab.«
    Die Medienhorde flutete durch den Raum, um den Schalter zu belagern. Meghan wußte nicht, welche Eingebung sie bei der Bahre verharren ließ. Sie sah, wie der Arzt, der eine Infusion anlegen wollte, die Sauerstoffmaske entfernte und die Augenlider des Opfers aufschob.
    »Sie ist tot«, sagte er.
    Meghan warf einen Blick über die Schulter einer Krankenschwester und starrte in die blicklosen Augen der toten jungen Frau. Sie rang nach Luft, als sie diese Augen in sich aufnahm, die breite Stirn, die gewölbten Brauen, die hohen Wangenknochen, die gerade Nase, die vollen Lippen.
    Es war, als schaute sie in einen Spiegel.
    Sie betrachtete ihr eigenes Gesicht.

    2
    Meghan nahm ein Taxi zu ihrem Apartment in Battery Park City, ganz unten an der Spitze von Manhattan. Die Fahrt war teuer, aber es war spät, und sie war sehr müde.
    Bis sie nach Hause kam, vertiefte sich der betäubende Schock vom Anblick der Toten noch, anstatt nachzulassen. Man hatte das Opfer in die Brust gestochen, wohl vier oder fünf Stunden, bevor sie gefunden wurde.
    Sie hatte Jeans an, eine abgesteppte Jeansjacke,
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