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Das Flüstern der Stille

Das Flüstern der Stille

Titel: Das Flüstern der Stille
Autoren: Ivonne Senn Heather Gudenkauf
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die Tür ihres Zimmers und spähte um die Ecke. Vorsichtig trat sie auf den kurzen Flur hinaus, wo es dunkler war, die Luft abgestandener und schwerer. Direkt gegenüber von ihrem Zimmer lag das von Ben, eine Kopie ihres eigenen, dessen Fenster nach hinten hinaus in den Garten und die Willow Creek Woods gingen. Bens Tür war geschlossen wie auch die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Calli hielt auf der obersten Treppenstufe kurz inne und versuchte, ihren Vater auszumachen. Stille. Vielleicht war er schon fort zum Angeln. Calli schöpfte Hoffnung. Ihr Vater würde mit seinem Freund Roger an die östlichste Grenze des Staates fahren, den Mississippi entlang, ungefähr hundertzwanzig Kilometer. Roger wollte ihn heute Morgen abholen, und sie würden für drei Tage fortbleiben. Calli hatte ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil sie sich über die Abwesenheit ihres Vaters freute, aber das Leben war so viel friedlicher, wenn sie drei allein waren.
    Jeder Morgen, an dem er in der Küche saß, brachte ihnen einen neuen Mann. An manchen Tagen war er fröhlich, er setzte sie auf seinen Schoß und rieb seine roten Barthaare an ihrer Wange, um sie zum Lächeln zu bringen. Er küsste Mom, reichte ihr eine Tasse Kaffee und lud Ben ein, mit ihm in die Stadt zu fahren. An diesen Tagen flossen die Worte wie ein endloser Strom aus dem Mund ihres Daddys, leicht und beinah mit einem Anflug von Zärtlichkeit in der Stimme. An anderen Tagen saß er an dem vernarbten Küchentisch, den Kopf in die Hände gestützt, leere Bierdosen achtlos über die Spüle und die braun gesprenkelte Arbeitsplatte verteilt. An diesen Tagen huschte Calli auf Zehenspitzen durch die Küche und schloss die Fliegentür leise hinter sich, lief in die Willow Creek Woods, um am Flussbett oder hinter den umgestürzten Bäumen zu spielen. Regelmäßig ging sie zurück bis zum Rand der Lichtung und sah nach, ob der Truck ihres Vaters noch da war. War er fort, kehrte sie heim, wo die Bierdosen schon weggeräumt und der durchdringende, schwitzige Geruch des Gelages weggeschrubbt worden waren. Wenn der Truck an seinem Platz stand, zog sich Calli wieder in die Wälder zurück, bis der Hunger oder die Hitze des Tages sie nach Hause trieben.
    Immer noch Stille. Ermutigt stieg Calli die Treppe hinab und vermied sorgsam, auf die knarrende vierte Stufe zu treten. Die Glühbirne über dem Herd warf ein gespenstisches Licht bis zum Fuß der Treppe. Calli musste nur in zwei großen Schritten an der Küchentür vorbei, um ins Badezimmer zu gelangen. Sie stand auf der letzten Stufe, die Zehen um die Kante gekrümmt, das hölzerne Geländer fest umklammert, und hob ihr Nachthemd an, um einen größeren Schritt machen zu können. Ein Schritt, ein vorsichtiger Blick in die Küche. Keiner da. Ein weiterer Schritt, an der Küche vorbei, die Hand auf das kühle Metall des Türknaufs, ein Dreh.
    „Calli!“, hörte sie ein barsches Flüstern. Calli stockte. „Calli! Komm raus!“
    Callis Hand löste sich vom Türknauf, sie folgte dem tiefen Klang der Stimme ihres Vaters. Die Küche war leer, aber durch die Fliegentür sah sie die Silhouette seiner breiten Schultern im frühen Morgenlicht. Er saß draußen auf den Betonstufen, sein Kopf eingehüllt in einen Nebel aus Zigarettenrauch und heißem Kaffeedampf.
    „Komm raus zu mir, Calli. Was bist du so früh schon auf?“, fragte er nicht unfreundlich. Calli öffnete die Fliegentür und achtete darauf, sie ihm nicht in den Rücken zu schlagen. Sie zwängte sich durch die schmale Öffnung und stand neben ihrem Vater.
    „Warum bist du wach, Calli? Schlecht geträumt?“ Mit einem Blick echter Besorgnis schaute Griff zu ihr auf.
    Sie schüttelte den Kopf und machte ein Zeichen, dass sie auf die Toilette müsse, obwohl der Drang sich im Moment verflüchtigt hatte.
    „Was ist das? Ich kann dich nicht hören.“ Er lachte. „Sprich ein bisschen lauter. Ach, du sprichst ja nicht.“ Jetzt wurde sein Gesichtsausdruck gehässig. „Du musst die Hände dafür benutzen.“ Abrupt stand er auf und verdrehte seine Hände in einer grotesken Imitation von Callis zaghaftem Handzeichen. „Kannst nicht wie ein normales Kind reden, musst stumm sein wie das Kind eines Zurückgebliebenen.“ Seine Stimme wurde lauter.
    Callis Blick glitt langsam zu Boden, wo ein Dutzend oder mehr zerknüllte Bierdosen herumlagen, und der Drang zur Toilette kehrte auf einmal mit aller Macht zurück. Sie schaute hinauf zum Fenster ihrer Mutter. Die Gardinen waren noch
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