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Das fehlende Glied in der Kette

Das fehlende Glied in der Kette

Titel: Das fehlende Glied in der Kette
Autoren: Agatha Christie
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entgegen.
    «Meine Frau, Hastings», sagte John.
    Niemals werde ich den ersten Anblick von Mrs. Cavendish vergessen. Ihre hohe, schlanke Gestalt zeichnete sich vor dem hellen Hintergrund ab. In ihren wunderschönen goldbraunen Augen schien ein verborgenes Feuer zu schwelen, es waren bemerkenswerte Augen, ganz anders als die aller Frauen, die mir jemals begegnet sind. Sie vermittelte den Eindruck großer Beherrschtheit, doch unter dem höchst kultivierten Äußeren war ein ungebärdiger, ungezähmter Geist spürbar. All das ist in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich werde es nie vergessen.
    Sie begrüßte mich freundlich mit tiefer, klarer Stimme und ich sank in einen Korbstuhl und freute mich außerordentlich, dass ich Johns Einladung angenommen hatte. Mrs. Cavendish goss mir Tee ein und ihre wenigen leisen Bemerkungen verstärkten meinen Eindruck von ihr als einer ungewöhnlich faszinierenden Frau. Ein aufmerksamer Zuhörer wirkt immer anregend und so gab ich einige Anekdoten aus dem Erholungsheim so witzig zum Besten, dass sich – wie ich mir schmeichelte – meine Gastgeberin sehr amüsierte. John ist zwar ein netter Kerl, aber man würde ihn schwerlich als brillanten Unterhalter bezeichnen.
    In diesem Augenblick ertönte durch die offene Terrassentür in unserer Nähe eine wohl bekannte Stimme: «Dann wirst du der Prinzessin also nach dem Tee schreiben, Alfred? Wegen des zweiten Tages werde ich selbst an Lady Tadminster schreiben. Oder sollen wir erst die Antwort der Prinzessin abwarten? Falls wir eine Absage erhalten, könnte Lady Tadminster das Fest am ersten Tag eröffnen und Mrs. Crosbie am zweiten. Dann wäre da noch die Herzogin – wegen des Schulfests.»
    Eine männliche Stimme murmelte eine Antwort, danach erwiderte Mrs. Inglethorp: «Aber gewiss doch. Nach dem Tee ist noch genug Zeit. Du denkst aber auch an alles, mein lieber Alfred.»
    Die Terrassentür schwang auf und eine schöne, weißhaarige alte Dame mit etwas gebieterischen Zügen trat heraus auf den Rasen. Ein Mann folgte ihr in etwas unterwürfiger Haltung. Mrs. Inglethorp begrüßte mich überschwänglich.
    «Welch große Freude, Sie nach all diesen Jahren wieder zu sehen, Mr. Hastings. Alfred, Liebster, Mr. Hastings – mein Mann.»
    Mit einiger Neugier betrachtete ich den liebsten Alfred. Er hatte wirklich etwas Befremdliches. Ich wunderte mich nicht, dass John sich abfällig über den Bart geäußert hatte. Es war einer der längsten und schwärzesten Vollbärte, die ich jemals gesehen hatte. Er trug einen Kneifer mit Goldrand und seine Gesichtszüge waren merkwürdig unbewegt. Mir kam der Gedanke, dass er auf eine Bühne passen würde, doch im wirklichen Leben wirkte er seltsam fehl am Platz. Seine Stimme war ziemlich tief und salbungsvoll. Er reichte mir steif die Hand und sagte: «Es ist mir eine Freude, Mr. Hastings.» Dann wandte er sich an seine Frau: «Liebste Emily, ich glaube, das Kissen ist ein wenig feucht.»
    Sie strahlte ihn liebevoll an, als er stattdessen ein anderes hinlegte – ein überzeugender Beweis hingebungsvoller Fürsorge. Eine seltsame Gefühlsverirrung für eine sonst so vernünftige Frau!
    Mit der Ankunft von Mr. Inglethorp wurde die Atmosphäre auf einmal gespannt, eine verschleierte Feindseligkeit wurde bei den Anwesenden spürbar. Besonders Miss Howard gab sich keinerlei Mühe, ihre Gefühle zu verbergen. Mrs. Inglethorp schien jedoch nichts Ungewöhnliches zu bemerken. Sie hatte ihre Redseligkeit, an die ich mich noch von früher erinnerte, in der Zwischenzeit nicht eingebüßt und sie redete ununterbrochen, hauptsächlich von dem bevorstehenden Basar, den sie organisierte und der demnächst stattfinden sollte. Ab und an wandte sie sich mit einer Frage nach Daten oder Terminen an ihren Gatten. Seine aufmerksame Fürsorge ließ keinen Augenblick nach. Von Anfang an fasste ich eine starke, tiefe Abneigung gegen ihn, und ich muss gestehen, dass meine ersten Einschätzungen meist ziemlich zutreffend sind.
    Als sich Mrs. Inglethorp an Miss Howard wandte, um ihr einige Anweisungen bezüglich eines Briefes zu geben, redete mich ihr Mann in seiner salbungsvollen Stimme an: «Sind Sie Berufsoffizier, Mr. Hastings?»
    «Nein, vor dem Krieg habe ich bei der Lloyd-Versicherung gearbeitet.»
    «Werden Sie nach dem Kriegsende wieder dorthin zurückgehen?»
    «Vielleicht. Entweder das, oder ich fange noch einmal etwas ganz Neues an.»
    Mary Cavendish beugte sich vor. «Welchen Beruf würden Sie denn wählen, wenn Sie sich
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