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Das fahle Pferd

Das fahle Pferd

Titel: Das fahle Pferd
Autoren: Agatha Christie
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stellte es woandershin. Sorgfältig legte sie ihr Brillenetui in eine chinesische Lackdose, in der sich bereits ein Fächer befand; dann seufzte sie tief auf und erklärte: »Ich bin froh, dass Sie es sind, Mark.«
    »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
    »Es hätte ja auch irgendein Mensch sein können, ein Versicherungsagent oder eine dumme Person, die von mir verlangte, einen Basar zu eröffnen, oder ein Klempner oder… ach, was weiß ich! Vielleicht auch jemand, der ein Interview erzwingen wollte. Immer die gleichen Fragen, die mich in Verlegenheit bringen. Was brachte Sie zuerst auf den Gedanken, Schriftstellerin zu werden? Wie viele Bücher haben Sie bereits geschrieben? Wie hoch sind Ihre Einnahmen? Und so weiter und so weiter. Ich weiß nie eine Antwort darauf und dann denken die Leute, ich sei ein Dummkopf. Aber das würde jetzt auch nichts mehr ausmachen, denn ich werde bestimmt noch verrückt über diese Kakadugeschichte.«
    »Will sich der logische Zusammenhang nicht einstellen?«, erkundigte ich mich verständnisvoll. »Dann gehe ich wohl besser.«
    »Nein, bleiben Sie, Mark. Sie sind immerhin eine Ablenkung.«
    Ich akzeptierte das zweifelhafte Kompliment.
    »Wollen Sie eine Zigarette?«, fragte Mrs Oliver geistesabwesend. »Irgendwo sind welche. Schauen Sie unter dem Deckel der Schreibmaschine nach.«
    »Danke, ich habe meine eigenen – bitte, bedienen Sie sich. Oh, Entschuldigung, Sie rauchen ja nicht.«
    »Und trinke nicht«, gab Mrs Oliver zurück. »Leider. Alle diese amerikanischen Detektive haben immer eine Flasche Whisky in ihrem Schreibtisch oder sonst wo. Das scheint ihre sämtlichen Probleme zu lösen. Wissen Sie, Mark, ich kann mir absolut nicht vorstellen, wie ein Mörder im wirklichen Leben ungestraft davonkommen sollte. Mir scheint alles immer so klar auf der Hand zu liegen, sobald das Verbrechen geschehen ist.«
    »Ach was, Unsinn! Sie haben doch wahrhaftig genug Bücher geschrieben, in denen zunächst nichts klar ist.«
    »Mindestens fünfundfünfzig«, gab Mrs Oliver zu. »Der Mord selbst ist immer ganz einfach und leicht. Aber eben die Verschleierung nachher macht alles so schwierig. Weshalb sollte es denn jemand anders getan haben als…? Man riecht es ja auf eine Meile gegen den Wind.«
    »Aber nicht, wenn das Buch fertig ist«, tröstete ich.
    »Ha, wissen Sie denn auch, was mich das kostet?«, fragte Mrs Oliver düster. »Sie mögen sagen, was Sie wollen, aber es ist einfach unnatürlich, dass fünf oder sechs Personen anwesend sind, wenn B. ermordet wird, und noch dazu alle ein Motiv hätten, ihn umzubringen – es sei denn, dieser B. sei wirklich der ganzen Welt verhasst. Und in dem Fall würde sich kein Mensch darum kümmern, ob er nun erstochen oder vergiftet wurde.«
    »Ich verstehe Ihr Problem vollkommen«, entgegnete ich. »Aber nachdem Sie es nun fünfundfünfzigmal gelöst haben, wird es Ihnen auch ein sechsundfünfzigstes Mal gelingen.«
    Sie fuhr sich wieder durchs Haar und zerrte heftig daran.
    »Nicht doch!«, rief ich. »Sie werden sich die Haare mitsamt den Wurzeln ausreißen.«
    »Blödsinn«, erklärte Mrs Oliver. »Haare sind zäh. Nur als ich mit vierzehn Jahren die Masern mit sehr hohem Fieber hatte, da fielen sie mir aus – rings um die Stirn. Sah schmachvoll aus. Und es dauerte ein halbes Jahr, bis sie wieder richtig nachgewachsen waren. Furchtbar für ein Mädchen – Mädchen sind ja so eitel. Ich dachte gestern daran, als ich Mary Delafontaine im Krankenhaus besuchte. Ihr Haar ist ausgefallen, genauso wie meines damals. Sie erklärte, sie müsse eine Stirnperücke tragen, bis es besser aussehe. Aber mit sechzig wachsen die Haare vielleicht gar nicht wieder nach.«
    »Ich habe vor ein paar Tagen gesehen, wie ein Mädchen einem anderen die Haare büschelweise ausriss«, bemerkte ich mit dem Stolz eines Menschen, der endlich einmal etwas vom wirklichen Leben mitbekommen hatte.
    »An was für merkwürdigen Orten haben Sie sich denn herumgetrieben?«, wunderte sich Mrs Oliver.
    »In einer Coffee Bar in Chelsea.«
    »Oh Chelsea?«, rief sie aus. »Dort geschehen die ausgefallensten Dinge. Beatniks und Sputniks und Squares und die ganze Beatgeneration. Ich schreibe selten darüber, weil ich immer Angst habe, dass ich die falschen Worte gebrauche und dann ausgelacht werde. Es ist besser, wenn ich mich an meine guten alten Rezepte halte.«
    »Zum Beispiel?«
    »Nun, Leute auf Vergnügungsfahrten, in Hotels, in Spitälern, Gemeindeversammlungen, Musikfesten –
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