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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters
Autoren: Judith Lennox
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es über sich bringen, ihn ganz allein hierzulassen?
    Die Hand schon an der Schranktür, hielt sie unschlüssig inne. Und in diesem Moment erschütterte ein lauter Knall – ein donnerndes Krachen, das von allen Wänden zurückgeworfen wurde – das Haus. Romy riß die Hand von der Tür und drückte die Fäuste auf die Augen, um nicht zu weinen. Sie hörte ihren Vater fluchen, hörte das Poltern seiner Nagelstiefel auf der Treppe, als er nach unten lief. Sie konnte sich nicht vorstellen, was diesen schrecklichen Lärm machte. Sie dachte an riesige Wölfe, die um das Haus tobten, mit ihren Krallen gegen die Haustür schlugen und mit rotglühenden Augen die Köpfe hoben und heulten.
    Der Lärm hörte auf. Ihr Vater kam wieder nach oben gelaufen. Er riß das Fenster im oberen Flur auf und schrie: »So leicht werden Sie mich nicht los, Mark Paynter. Ich hab’s Ihnen gesagt – nur über meine Leiche.«
    Wieder Stille. Romy wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Sie fror und hatte Hunger und mußte dringend aufs Klo. Sie versuchte zu beten. Das taten sie in der Schule, wenn etwas Schlimmes geschah. Sie hatten gebetet, als Harry Fort Diphtherie gekriegt hatte, und sie hatten gebetet, als das Schiff von Lizzie Clarks Bruder von den Deutschen mit Torpedos beschossen worden war. Romy schloß ganz fest die Augen und drückte die Handflächen aneinander und betete, erst das Vaterunser, dann »Mit meinem Gott geh ich zur Ruh« und ein Gebet aus der Kirche, das Romy gern mochte, weil es um Schafe ging und sie dabei an die Berge denken mußte und die Herde ihres Vaters, die auf dem struppigen Gras weidete.
    Sie war bei »allzu sehr sind wir den Neigungen und Wünschen unseres eigenen Herzens gefolgt …«, als der Lärm von neuem anhob. Sie konnte nicht erkennen, woher er kam. Er schien sie von allen Seiten zu umgeben, laut und bedrohlich: Wieder die Wölfe, die wütend und wild in ihr Haus einzubrechen drohten.
    Draußen kam ihr Vater den Flur herunter und blickte gehetzt von einer Seite zur anderen. Vor dem Schrank, in dem sie sich versteckt hielt, blieb er stehen. Wenn sie die Tür geöffnet hätte, hätte sie nur den Arm auszustrecken brauchen, um ihn zu berühren.
    Doch plötzlich wandte er sich ab und eilte zur Speichertreppe. Der Lärm kam vom Dach. Romy sah die Wölfe, wie sie die Schindeln zur Seite stießen, zwischen den Dachbalken hindurchschlüpften und mit aufgerissenen Mäulern, in denen die langen scharfen Zähne zu sehen waren, über den Speicher schlichen.
    Wieder krachte das Gewehr. Ein gellender Schrei hallte durch das Haus.
    Romy schluchzte. Sie zitterte am ganzen Körper vor Angst. Ihr Vater hatte einen Menschen angeschossen, ihn vielleicht sogar getötet. Ihr Vater war ein Mörder. Auf das Wort war sie vor nicht allzu langer Zeit zum erstenmal gestoßen. Mörder. Es klang ganz fürchterlich, gruselig. Obwohl sie fest die Augen zudrückte, ließ sie das Wort nicht los. Mörder. Sie erinnerte sich, wie das Schwein geschrien hatte, als ihr Vater ihm das Messer an den Hals gelegt hatte. Sie erinnerte sich an den Geruch des Schweinebluts, warm und metallisch. Sie wußte, was man mit Mördern machte. Eines der großen Mädchen in der Schule hatte es ihr gesagt: Sie hängen sie am Galgen auf. Sie hängen sie auf, bis sie tot sind.
    Warum hatte sie ihn nicht aufgehalten? Warum war sie ihm nicht nachgelaufen und hatte ihn angefleht, das Gewehr wegzulegen? Zusammengekauert drückte sie sich mit geballten Fäusten in die hinterste Ecke des Schranks. Sie hörte Glas splittern. Sie wünschte, ihr Bruder wäre bei ihr; sie wünschte, ihre Mutter wäre bei ihr. Sie begann wieder, vor sich hin zu singen, summte leise wie Mam immer an Maisies Bettchen gesummt hatte: »Die Männer im Wald, die fragten mich einst …«
    Aus dem Garten schallten rufende Stimmen herauf. Sie hörte hastige Schritte. Ihr Vater kam in den Flur zurück. Romy beobachtete ihn durch das Astloch. Sein Atem ging in lauten Stößen, und seine Augen waren feucht, als hätte er geweint. Er rieb sich mit einer Hand das Gesicht und sprach mit sich selbst. Seine Stimme war leise und zitterte. »Ihr wollt mir mein Haus wegnehmen, ja? Meine Familie auf die Straße setzen? Nur über meine Leiche. Nur über meine Leiche.«
    Die dröhnenden Schläge unten wurden immer lauter. Sie würden das Haus niederreißen. Sie würden die Fenster einschlagen und die Mauern zertrümmern, bis nichts mehr von Middlemere übrig war. Und dann würden sie ihren
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