Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters
Autoren: Judith Lennox
Vom Netzwerk:
von den Bäumen auf. Romy wimmerte leise und hielt sich die Ohren zu.
    »Sie kriegen mich hier nicht weg, Mark Paynter.« Die leeren Patronenhülsen fielen klirrend zu Boden. »Und Sie verschwinden von meinem Grundstück, wenn Sie wissen, was gut für Sie ist. Ich warne Sie – der nächste Schuß geht nicht in die Bäume. Sie wollen sich doch Ihren schnieken Anzug nicht versauen, oder? Also, verschwinden Sie und lassen Sie sich nicht wieder blicken.«
    »Ich hole die Polizei. Bilden Sie sich bloß nicht ein, daß Sie damit durchkommen. Ich –«
    Das Fenster flog krachend zu, die Stimmen waren nur noch undeutlich vernehmbar. Durch das Dröhnen ihrer Ohren hindurch hörte Romy ihren Vater vor sich hin schimpfen. Mit geschlossenen Augen an die Wand gelehnt, stand er da. Er atmete schnell und keuchend. Am liebsten wäre sie sofort zu ihm gelaufen, um ihn irgendwie zu trösten, aber ihre Beine zitterten so stark, und außerdem würde er böse werden, wenn er sie sah, das wußte sie. Sie sollte nicht hiersein, sie sollte in der Schule sein. Kinder kann ich hier nicht gebrauchen . Kinder kann ich hier nicht gebrauchen, wenn die mir Middlemere wegnehmen wollen .
    Es blieb still. Die Männer sind wieder abgezogen, dachte Romy und ließ sich erleichtert zurücksinken. Die Männer waren abgezogen, und ihr Vater würde das Gewehr wieder in den Schrank stellen, und alles würde wieder gut werden. Niemand konnte sie aus Middlemere vertreiben. Wie denn auch? Middlemere war ihr Zuhause. Ihr Vater hatte die Männer daran gehindert, ihnen Middlemere wegzunehmen, es würde alles wieder gut werden, die Welt würde wieder in Ordnung kommen.
    Doch ihr Vater blieb am Fenster. Er hielt das Gewehr, und sein Gesicht trug einen Ausdruck, der eine Mischung aus grimmiger Entschlossenheit und Furcht war. Sie wagte es noch nicht, aus dem Schrank zu klettern und zu ihm zu laufen, um ihm zu sagen: »Dad, ich bin hier, ich bin bei dir geblieben.« Mit Schrecken fiel ihr ein, daß Annie Paynters Vater gesagt hatte: Ich hole die Polizei . Wenn nun die Polizei ihren Vater ins Gefängnis steckte? Wie sollten sie dann zurechtkommen? Wer sollte sich um die Kühe und die Schafe kümmern?
    Romy versuchte, sich selbst zu beruhigen. Vielleicht würde die Polizei ihnen helfen. Vielleicht würde die Polizei dafür sorgen, daß Mr. Paynter nicht wieder hierherkam. Sie hockte sich auf den Haufen Federn, legte den Kopf auf die hochgezogenen Knie und wiegte sich mit geschlossenen Augen sachte hin und her, wobei sie leise vor sich hin sang: »Die Männer im Wald, die fragten mich einst, Wie viele wilde Erdbeeren wachsen im Meer?«
    Nach einer Weile wurde die Stille beängstigender, als das Geschrei es gewesen war. Auf dem Hof war es bei Tag selten still. Drinnen sorgte ihre Mam für geräuschvolle Lebendigkeit, wenn sie kochte und putzte, Brot backte und butterte, sie und Jem ermahnte, sich endlich für die Schule fertigzumachen oder bei irgendeiner Arbeit mit anzupacken. Draußen begleiteten einen die Geräusche der Tiere, der Kühe, des Schweins, des Pferdes und des Hundes, dessen Krallen auf den Kopfsteinen klapperten, wenn er an der Seite ihres Vaters über den Hof trottete; und man hörte den Wind, der durch die Bäume pfiff, wenn die Herbststürme begannen, und im Getreide raschelte, wenn es im Spätsommer gelb und hoch auf den Feldern stand. Und das alles wurde übertönt von der schallenden Stimme ihres Vaters, wenn er den Gaul über das Feld führte oder dem Knecht Anweisungen gab oder Romy und Jem, wenn sie auf dem kurzen Weg am Feldrain entlang von der Schule nach Hause kamen, ein Wort des Grußes zurief.
    Wenn sie sich mit aller Kraft konzentrierte, konnte sie sich vorstellen, es wäre Sommer und sie und Jem liefen den Fußweg hinunter. Sie konnte die warme Erde riechen und das Geißblatt in den Hecken. Sie fühlte sich wohl und geborgen, weil sie nach Middlemere heimkehrte. Das Sonnenlicht fiel durch das Laub der hohen Buchen, und auf der Wiese blühten die Butterblumen. Der dunkle Teich unter den Bäumen glitzerte. Jem war neben ihr, und sie hatte ein Auge auf ihn, wie immer. Sie war ja Jems große Schwester; sie war achteinhalb, und er war erst sieben, da mußte sie doch auf ihn aufpassen … Eingehüllt in die Dunkelheit des Schranks, nickte Romy ein.
    Motorengeräusch weckte sie. Mit einem Ruck fuhr sie in die Höhe und konnte sich einen Moment lang nicht erinnern, wo sie war. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte.
    So gut es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher