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Das Erbe des Bösen

Das Erbe des Bösen

Titel: Das Erbe des Bösen
Autoren: dtv
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sah, der in ihrer Erinnerung ein Mann im besten Alter war?
    In seinem tiefsten Inneren war Rolf sich jedoch der Tatsache bewusst, dass er sich viel mehr vor dem fürchtete, was er selbst beim Anblick von Katharina empfinden würde, nach allem, was geschehen war . . . Ihren Briefen nach zu urteilen war sie immerhin noch rüstig, zumindest geistig.
    Rolf zog das Gitter auf, trat aus dem Aufzug und blieb vor einer kunstvoll verzierten Tür stehen. Wie es aussah, führte Katharina ein Leben in soliden Verhältnissen.
    Rolf brauchte eine Weile, um seinen Mut zusammenzunehmen. Er versuchte, möglichst aufrecht zu stehen und einen munteren, freundlichen Ausdruck in sein Gesicht zu bringen. Schließlich läutete er.
    Er war überrascht, als ein etwa dreißigjähriger Mann die Tür öffnete.
    »Herr Narva, bitte treten Sie ein«, sagte der dunkeläugige Mann freundlich und ließ Rolf an sich vorbei. Er war ordentlich gekleidet, hatte starke Augenbrauen und dichte, braune Locken. Ein Verwandter von Katharina?
    Er ging in ein kühles, schattiges Wohnzimmer voran, streckte dort die Hand aus, und stellte sich als Dieter Hoffmann vor.
    |18| »Frau Kleve hat sehr auf Sie gewartet, aber leider musste sie gestern wegen starker Hüftbeschwerden in die Klinik. Sie hat mich gebeten, Sie dorthin zu fahren. Mein Wagen steht unten.«
    Rolf nickte. In gewisser Weise erleichterte ihn der Aufschub dieser besonderen Begegnung. Er blickte sich interessiert um. Die Wohnung war überraschend modern, das galt auch für die hellen Möbel. Auf einer Kommode standen gerahmte Fotos. Rolf ließ den Blick darüber schweifen: Katharina am Strand, vielleicht in Sotschi, irgendwann in den Siebzigerjahren, auch im Alter von über fünfzig noch rank und schlank. Auf dem zweiten Bild war sie wesentlich älter. Sie trug einen Rucksack, und im Hintergrund sah man nebelverhangene Berge und den Teil eines Cafés mit polnischem Schild. Diese Aufnahme konnte aus der Tatra stammen. Auf den Fotos wirkte Katharina glücklich. War es ihr gelungen, die Gespenster der Vergangenheit aus ihren Erinnerungen zu verbannen?
    Zumindest hielt sie nichts aus ihrer Geschichte versteckt, denn unter den Bildern waren auch alte Schwarzweißfotos. Rolf kniff die Augen zusammen. Zu seinem Erstaunen war auf einem Hans zu erkennen, der einige Monate zuvor gestorben war und von dem sich Katharina schon Anfang der Fünfzigerjahre hatte scheiden lassen. Hans sah auf dem Foto aus, wie er immer gewesen war: ein eleganter Charmeur im hellen Anzug.
    Dann richtete Rolf seine Aufmerksamkeit auf ein Bild, das Katharina mit zwei anderen Frauen zeigte. Es war von schräg unten aufgenommen, und die Frauen schauten vor wolkenlosem Himmel an der Kamera vorbei und lächelten. Alle drei waren schön, und sie strahlten die Frische und den Zukunftsglauben der Jugend aus.
    Plötzlich stutzte Rolf. Er kannte die beiden anderen Frauen auf dem Bild. Auch sie hatten in Dahlem Medizin studiert. Er erinnerte sich sogar an eine von ihnen: Hilda. Und im selben Augenblick erkannte er, was an dem Bild nicht stimmte.
    Nachdem es gemacht worden war, hatte sich herausgestellt, dass Hans und Hilda ein Verhältnis hatten. Hans hatte Schluss |19| gemacht, und Katharina war daraufhin bereit gewesen, Hans zurückzunehmen. Wenig später hatten sie geheiratet.
    Warum, um Himmels willen, hatte Katharina ein Foto von der Geliebten ihres Mannes hier stehen? Ein Mensch konnte vielleicht seine Höhenangst überwinden, aber niemals den Betrug durch einen Geliebten. Auch nicht Jahrzehnte danach. Rolf wusste das aus eigener, bitterer Erfahrung nur zu gut.
    »Sind Sie soweit?«, fragte der lächelnde Hoffmann mit der Hand auf der Türklinke.
    Rolf räusperte sich leicht. »Mir ist gerade eingefallen, dass ich meine Medikamente im Hotel vergessen habe. Die muss ich zuerst holen.«
    »Ich kann Sie gern hinbringen.«
    »Nein«, sagte Rolf entschieden. Zu entschieden. Er durfte seinen Argwohn nicht verraten. »Diese Begegnung ist für mich nicht leicht. Aus verschiedenen Gründen . . . Ich möchte ein wenig spazieren gehen, für mich alleine sein, und nachdenken. Das verstehen Sie doch?«
    Hoffmann nickte, aber das Lächeln in seinem Gesicht war verschwunden. Diese Veränderung in der Miene des Mannes machte Rolf nervös. Er hatte gelernt, die Gesichter der Menschen zu lesen wie mathematische Formeln und technische Zeichnungen. Das war die Voraussetzung für sein Überleben gewesen.
    »Könnten wir uns in einer Stunde wieder treffen?«,
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