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Das dunkle Volk: Mondschein: Roman (German Edition)

Das dunkle Volk: Mondschein: Roman (German Edition)

Titel: Das dunkle Volk: Mondschein: Roman (German Edition)
Autoren: Yasmine Galenorn
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Morgens.
    Ich konnte es kaum erwarten, Tante Heather und meine Cousine Rhiannon wiederzusehen. Sie waren meine einzigen Verwandten und wunderbare Menschen. Ich klopfte an die Tür, und Rhiannon öffnete.
    Wir hatten uns vor neun Jahren zum letzten Mal gesehen, doch meine Cousine hatte sich überhaupt nicht verändert – sie war einfach nur ein bisschen älter geworden. Sie war groß und gertenschlank und hatte genau wie Tante Heather flammend rotes Haar. Doch ein einziger Blick in ihr Gesicht verriet mir, dass etwas nicht stimmte. Ihre Augen waren rotgerändert und geschwollen, und sie sah aus, als hätte sie schon eine Weile nicht mehr geschlafen. Wir umarmten uns kurz.
    »Was ist los?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Heather ist weg.«
    Fuck. Ich war zu spät. »Aber ich habe doch noch vor ein paar Tagen mit ihr gesprochen.«
    Ich trat zurück, lehnte mich gegen eine der Säulen der Veranda, und Rhiannon kam zu mir heraus. Sie trug einen voluminösen, flusigen Morgenmantel, und als sie über den Rasen hinweg zum Waldrand blickte, glommen ihre Augen wie zwei Bernsteine.
    »Als ich gestern von der Arbeit nach Hause kam, war sie fort. Verschwunden. Als sei sie nie hier gewesen.«
    Ich schnitt eine Grimasse. Heather war mir immer mehr Mutter gewesen als meine eigene.
    »Hast du die Polizei benachrichtigt?«
    »Ja, aber es hat nicht viel genützt. Sie nehmen erst eine Vermisstenanzeige auf, wenn die Person vierundzwanzig Stunden weg ist, und man hat mich zu überzeugen versucht, dass sie bloß vergessen hat, mir zu sagen, dass sie einen Ausflug macht.« Sie presste die Lippen so fest zusammen, dass sie weiß wurden. »Heather hat Tasche und Schlüssel hiergelassen. Und ihr Wagen steht in der Auffahrt. Sie ist da draußen, Cicely.« Sie deutete mit dem Kopf auf den Wald. »Ich weiß es.«
    Ich verschränkte die Arme und schauderte, während ich meinen Blick bis zu dem tiefen Graben schweifen ließ, der am Ende der ausgedehnten Rasenfläche abfiel. Das Haus der Schleier – das meiner Tante gehörte – stand auf einem großen Grundstück am Ende der Vyne Street, einer Sackgasse, in der sich kaum andere Häuser befanden. Der Rasen ging in ein Baumdickicht über, das sich an einer Seite in die Klamm hinabzog und auf der anderen Seite wieder anstieg, wo das Dickicht in eine Lichtung mündete. Kiefern und Zedern bildeten ein kompaktes Grün, aber ein Dunst hing wie eine Art Smog über der Gegend, und die Luft fühlte sich staubig an, wie in einem verlassenen Haus, in dem eine Ewigkeit nicht gelüftet worden war.
    Ein Windstoß durchfuhr mich, und ich glaubte, ein Knurren zu hören.
    Da ist jemand gar nicht glücklich, dass du wieder hier bist. Ulean wirbelte die Luft um mich herum auf, um sie zu einem Mantel aufzubauschen, der sich um meine Schultern legte. Du bist in Gefahr.
    Wovon geht die Gefahr aus?
    Das weiß ich nicht. Die Energie ist schwer zu lesen, aber die Art ist dieselbe wie die, die wir gestern auf dem Parkplatz gespürt haben. Sie ist tödlich und mächtig, und sie beobachtet dich.
    Fuck, dachte ich, als ich meine Lederjacke fester um mich zog.
    Mit Gefahr konnte ich umgehen, sofern ich denn wusste, worin sie bestand. Wieder wirbelte ein Windstoß Schnee auf und ließ die Flocken auf die Veranda tanzen. Zu kalt – sogar für Dezember war es hier zu kalt. In New Forest hatte es immer Schnee gegeben, aber nie viel, und er war auch nie lange liegen geblieben.
    »Cicely, ich weiß, dass es kalt hier draußen ist, aber meinst du, du könntest vielleicht wahrnehmen, wo sie ist?« Rhiannon lehnte sich an den gegenüberliegenden Stützbalken. »Schon damals, als wir noch klein waren, hattest du große Kräfte. Kannst du im Wind für mich lesen?«
    »So groß auch wieder nicht«, gab ich zurück. In meiner Zeit auf der Straße war viel auf der Strecke geblieben. »Aber ich werde es versuchen.« Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die schneidende Brise, die ums Haus pfiff. Manchmal war es Ulean, die mit mir sprach, manchmal der Wind selbst.
    Mit dem Luftstrom kam das Flattern von Schwingen, vereinzeltes Flüstern und Gedanken, das Übliche also. Doch hinter den plötzlichen Böen, dem Aufwallen und Abschwellen, lauerte ein Schatten, der mir Unbehagen bereitete. Es gab Schatten, die Trost und Schutz spenden. Andere stahlen das Licht. Und dieser saugte dem Tag Wärme und Leben aus.
    Ich drang weiter vor, suchte Heathers Energie und konzentrierte mich auf das, an was ich mich am besten erinnern konnte: den
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