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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies
Autoren: Patrick Ness
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strengt es mich an, nicht zu schluchzen (halt die Klappe).
    Der Bürgermeister verbindet auch die Verletzungen an meiner Brust und an meinem Bauch, er ist so behutsam, dass ich es fast nicht aushalte, so behutsam, dass man fast glauben möchte, er wolle mir auf keinen Fall wehtun.
    »Das will ich auch nicht, Todd«, sagt er. »Die Zeit wird kommen, in der du einsiehst, dass es wahr ist.«
    Er stellt sich hinter mich und legt einen Verband um meine wunden Handgelenke, nimmt meine Hände in die seinen und massiert sie mit dem Daumen, bis das Gefühl wieder in sie zurückkehrt.
    »Der Tag wird kommen«, sagt er, »an dem du mir vertrauen wirst. An dem du mich vielleicht sogar mögen wirst. An dem du an mich wie an einen Vater denkst, Todd.«
    Es ist, als würde mein Lärm hinwegschmelzen wie unter Drogen, zusammen mit den Schmerzen, die nun langsam verschwinden, und ich mit ihnen. Es ist, als würde er mich schließlich doch noch töten, aber durch Fürsorge, nicht durch Strafe.
    Ich kann das Weinen nicht mehr aus meiner Kehle, meinen Augen, meiner Stimme fernhalten.
    »Bitte«, sage ich. »Bitte.«
    Aber ich weiß nicht, worum ich bitte.
    »Der Krieg ist vorbei, Todd«, sagt der Bürgermeister wieder. »Wir werden eine neue Welt schaffen. Dann wird dieser Planet seinem Namen endlich und wahrhaftig gerecht werden. Glaub mir, wenn ich dir sage: Sobald du das erst einmal einsiehst, wirst du ein Teil dieser neuen Welt sein wollen.«
    Ich atme in die Dunkelheit.
    »Du könntest ein Anführer werden, Todd. Du hast bewiesen, dass du etwas ganz Besonderes bist.«
    Ich atme weiter, will mich darauf konzentrieren, aber ich spüre, wie ich mir selbst entgleite.
    »Woher weiß ich es?«, frage ich schließlich. Meine Stimme ist nur noch ein Krächzen, ein Lallen, etwas völlig Unwirkliches. »Wie kann ich wissen, dass sie überhaupt noch lebt?«
    »Das kannst du nicht«, antwortet der Bürgermeister. »Du musst auf mein Wort vertrauen.«
    Und er wartet wieder.
    »Wenn ich es tue«, frage ich. »Wenn ich tue, was Ihr von mir verlangt, werdet Ihr sie dann retten?«
    »Wir werden alles tun, was nötig ist«, gibt er zur Antwort.
    Jetzt, da die Schmerzen verschwunden sind, scheint es mir beinahe, als hätte ich keinen Körper, als wäre ich nur ein Geist, der auf einem Stuhl sitzt, blind und unvergänglich.
    Als wäre ich schon längst tot.
    Denn woher soll man wissen, dass man noch lebt, wenn nichts mehr wehtut?
    »Wir haben die Wahl, was aus uns wird, Todd«, sagt der Bürgermeister. »Nicht mehr und nicht weniger. Und ich wünsche mir, dass du mir endlich sagen kannst, was ich von dir hören will. Ich wünsche mir das wirklich sehr.«
    Unter meinem Verband ist nichts als Dunkelheit.
    Ich bin allein, allein im schwarzen Nichts.
    Allein mit seiner Stimme.
    Ich weiß nicht, was ich machen soll.
    Ich weiß gar nichts.
    (Was soll ich nur tun?)
    Aber wenn auch nur der Hauch einer Chance besteht, nur eine klitzekleine Chance …
    »Ist es wirklich ein so großes Opfer für dich, Todd?«, fragt der Bürgermeister und hört zu, wie ich überlege. »Hier, am Ende der Vergangenheit? Am Beginn der Zukunft?«
    Nein. Nein, ich kann es nicht. Er ist ein Lügner und ein Mörder, egal, was er sagt.
    »Ich warte, Todd.«
    Vielleicht ist sie ja noch am Leben, er könnte dafür sorgen, dass sie am Leben bleibt.
    »Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, Todd.«
    Ich hebe den Kopf, die Bewegung lockert den Verband ein wenig. Ich blinzle ins Licht, blinzle dem Bürgermeister ins Gesicht.
    Es ist ausdruckslos wie immer.
    Es ist wie eine kahle, tote Wand.
    Ich könnte ebenso gut in einen Abgrund sprechen.
    Ich könnte ebenso gut in einem Abgrund sein.
    Ich schaue weg. Ich schaue nach unten.
    »Viola«, sage ich, zum Teppich gewandt. »Sie heißt Viola.«
    Der Bürgermeister atmet tief aus, erfreut und erleichtert. »Gut, Todd«, sagt er. »Ich danke dir.«
    Dann wendet er sich an Mr Collins.
    »Binde ihn los.«

TEIL I
    Todd im Turm

1
    Der alte Bürgermeister
    [TODD]
    Mr Collins stößt mich einen schmalen, fensterlosen Treppenaufgang hinauf. Endlose Stufen mit engen, gewundenen Absätzen. Gerade als meine Beine nicht mehr mitmachen wollen, kommen wir zu einer Tür. Er öffnet sie und versetzt mir einen groben Stoß. Ich stolpere in den Raum und falle auf den Holzfußboden. Meine Arme sind so steif, dass ich den Sturz nicht abfangen kann, stöhnend rolle ich auf die Seite.
    Und blicke in einen dreißig Meter tiefen Abgrund.
    Mr Collins lacht, als ich auf allen
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