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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies
Autoren: Patrick Ness
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und amüsiert klingt.
    »Von nun an heißt das ›Präsident Prentiss‹, Junge«, knurrt Mr Collins. »Du tätest gut daran, dir das zu merken.«
    »Was habt Ihr mit ihr gemacht?« Bei dem Versuch, mich nach rechts oder links zu drehen, stöhne ich auf, weil der Rücken mir so wehtut. »Wenn Ihr sie anrührt, dann …«
    »Du kommst am Morgen in meine Stadt«, unterbricht mich der Bürgermeister, »mit leeren Händen, nicht einmal ein Hemd hast du am Leib, trägst ein Mädchen auf den Armen, das einen Unfall hatte …«
    Mein Lärm kocht hoch. »Es war kein Unfall!«
    »… das einen wirklich schlimmen Unfall hatte«, fährt der Bürgermeister fort, und in seiner Stimme schwingt ein erstes Anzeichen von Ungeduld, wie in dem Moment, als wir uns auf dem Platz gegenüberstanden. »So schlimm, dass es zwischen Leben und Tod schwebt. Und hier sitzt der Junge, den zu finden uns so viel Zeit und Mühe gekostet hat, der Junge, der uns so viele Unannehmlichkeiten bereitet hat, der sich uns aus freien Stücken gestellt hat, der uns zugesichert hat, alles zu tun, was wir wollen, wenn wir nur das Leben des Mädchens retten, und obwohl wir genau das versuchen …«
    »Geht es ihr gut? Ist sie in Sicherheit?«
    Der Bürgermeister verstummt. Mr Collins tritt einen Schritt vor und schlägt mir mit dem Handrücken ins Gesicht. Der pulsierende Schmerz wandert mit quälender Langsamkeit über meine Wange und ich sitze nur da und ringe verzweifelt nach Luft.
    Dann tritt der Bürgermeister in den Lichtkegel, direkt vor mich hin.
    Seine Kleidung ist noch immer tadellos, frisch und sauber, als steckte kein Mensch darin, sondern ein wandelnder, sprechender Eisblock. Sogar auf der Kleidung von Mr Collins sind Schweiß- und Schmutzflecken, und er riecht entsprechend, aber nicht der Bürgermeister, nein, der nicht.
    In Gegenwart des Bürgermeisters fühlt man sich wie ein Haufen Unrat, der beiseitegeräumt werden muss.
    Er bückt sich, damit er mir in die Augen sehen kann.
    Und dann fragt er mich leichthin, wie aus reiner Neugierde: »Wie heißt sie, Todd?«
    Ich blinzle überrascht. »Was?«
    »Wie heißt sie?«, fragt er noch einmal.
    Er muss doch wissen, wie sie heißt. Ganz bestimmt kann er ihren Namen in meinem Lärm lesen.
    »Ihr wisst, wie sie heißt.«
    »Ich möchte aber, dass du es mir sagst.«
    Ich schaue von ihm zu Mr Collins, der mit verschränkten Armen dasteht, ich brauche sein Schweigen gar nicht, ich kann in seinem Gesicht lesen, dass er nichts lieber täte, als mich in Grund und Boden zu prügeln.
    »Versuchen wir’s noch mal, Todd«, sagt der Bürgermeister ungerührt. »Du würdest mir eine große Freude machen, wenn du meine Frage beantworten würdest. Wie heißt es, dieses Mädchen aus einer anderen Welt?«
    »Wenn Ihr schon wisst, dass sie aus einer anderen Welt kommt, dann kennt Ihr bestimmt auch ihren Namen.«
    Jetzt lächelt der Bürgermeister, er lächelt tatsächlich.
    Und ich fürchte mich mehr als je zuvor.
    »So funktioniert das nicht, Todd. Die Spielregeln sind so: Ich stelle die Frage und du antwortest. Also: Wie heißt sie?«
    »Wo ist sie?«
    »Wie heißt sie?«
    »Sagt mir, wo sie ist, und ich sage Euch, wie sie heißt.«
    Er seufzt, so als hätte ich ihn enttäuscht. Dann nickt er Mr Collins zu, der vortritt und mir einen Schlag in den Magen versetzt.
    »Das ist ein ganz einfacher Handel, Todd«, sagt der Bürgermeister, während ich auf den Teppich speie. »Du musst mir nur sagen, was ich wissen will, und schon ist alles vorbei. Du hast die Wahl. Glaub mir, ich möchte dir nicht noch mehr wehtun.«
    Ich keuche, krümme mich, bekomme vor lauter Schmerzen im Magen kaum noch Luft. Mein Gewicht zerrt an den Fesseln meiner Handgelenke und ich spüre das Blut in meinem Gesicht, klebrig und halb angetrocknet, mit verschleierten Augen kauere ich in meinem Gefängnis aus Licht, mitten in diesem Raum, der keinen Ausgang hat.
    Diesem Raum, in dem ich sterben werde.
    Diesem Raum, in dem sie nicht ist.
    Und etwas in mir trifft einen Entschluss.
    Wenn dies das Ende ist, dann ist die Entscheidung klar.
    Die Entscheidung, nichts zu sagen.
    »Ihr wisst, wie sie heißt«, sage ich. »Tötet mich, wenn Ihr wollt, denn Ihr wisst ihren Namen ohnehin.«
    Der Bürgermeister sieht mich nur an.
    Es ist die längste Minute meines Lebens, er schaut mich an, liest in meinem Lärm, sieht, dass ich meine, was ich sage.
    Und dann geht er zu dem kleinen Holztisch.
    Ich will sehen, was er da macht, aber er kehrt mir den Rücken zu.
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