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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition)
Autoren: Martin Walser
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hast kalte Hände, sagte ich.
    Du nicht, sagte sie.
    Ich beugte mich hinüber und sagte ihr ins Ohr: Ich liebe dich so.
    Ihr Händedruck wurde ein bisschen spürbarer als sonst.

2
    Sehr verehrte Frau Professor,
    Ihre Anschrift verdanke ich dem Persönlichen Referenten. Gleich am nächsten Tag wählte ich mich zu ihm durch und log, der Gefeierte beschäftige mich so, ich müsse ihm schreiben, ihm schildern, was er in einem Schriftsteller angerichtet habe. Zu Ihnen, der Theologin, gesagt: Lügen ist für mich eher ein linguistisches als ein moralisches Problem. Schon seit zwei Wochen also habe ich Ihre Anschrift, und jeden Tag schrieb ich Ihnen, und nie schickte ich Ihnen, was ich Ihnen schreiben musste. Ich bekomme zu viele Briefe, in denen mir Geständnisse aufgeladen werden, an denen ich nicht schuldig bin. Öfter von Frauen. Ich kann diese Briefe nicht wegwerfen. Sie füllen Schubladen und Schachteln seit Jahren. Vor allem seit jenem Strandhafer-Buch, das mich (auch Ihnen) bekannt gemacht hat. Ich fühle mich schuldig, zumindest verantwortlich. Alle diese Briefe zusammen kann ich empfinden als ein Kapital, dessen Wert sich, wenn ich es realisieren wollte, als geringfügig herausstellen könnte. Und trotzdem: Ich horte die Gefühlsausführlichkeiten von Frauen und Männern nicht ohne Empfindung. Bitte, glauben Sie nicht, ich wolle Ihnen gegenüber die hohen und oft schönen Töne dieser von Zuneigung oder Zustimmung belebten Briefe auch nur im Geringsten abwerten. Ich hoffe sogar, dass ich immer in müheloser Herzenshöflichkeit geantwortet habe. Mehr als einmal kam es zu regelrechten Briefwechseln. Allerdings war das, was Frauen schrieben, heftiger ausgestattet als meine immer ein bisschen vage spekulativen Antworten. Schon dass ich immer nur antwortete!
    Warum schreib ich Ihnen das?
    Ich muss befürchten, dass Sie solche nicht bestellten Gefühlsangebote so gut kennen wie ich. Ich bin ja nur auf Papier öffentlich. Sie aber treten andauernd auf, lehrend, diskutierend, Ihren Mann präsentierend. Also weiß ich, mit welcher Empfindung Sie im besten Fall meine zudringliche Post zur Kenntnis nehmen. Vielleicht lesen Sie diese Zudringlichkeiten gar nicht. Das schreiben meine Briefschreiberinnen regelmäßig auch. Regelmäßig kommt, was auch ich jetzt nicht unterlassen kann: Wenn Sie bis hierher gelesen haben, dann …
    Gut, darüber wissen Sie Bescheid. Und wenn ich die Bezeugungen, die mir zugedacht sind, nur im mindesten klein oder gar lächerlich machen würde, dann würde ich mich ja, da ich jetzt auch so ein Zudringlichkeitsverfasser bin, selber klein und lächerlich machen. Die besten meiner Zudringlichen fühlen und finden sich selber übrigens gar nicht klein oder lächerlich. Sie finden es aber bedauernswert, dass sie mir schreiben. Sie würden mir lieber nicht schreiben. Dann aber doch.
    Jetzt schildere ich schon eher mich als die, die mir schreiben.
    Ich habe doch etwas ganz anderes schreiben wollen. Eine Gefühlserfahrung, die mir seit dem Bellevue-Abend jeden Tag noch deutlicher zuteil wird: Sie haben von selbst meine Briefbestände in allen meinen Schubladen entwertet. Ich habe es in den letzten zwei Wochen täglich nachgeprüft. Alles, was mir in vielen Jahren freundlich, liebevoll oder leidenschaftlich geschrieben wurde, ist jetzt nichts mehr wert. Eine eigenartige Erfahrung. Unter den Frauen, die mir geschrieben haben, gibt es deutliche Begabungen. Vielleicht schreiben einem Schriftsteller auch nur Frauen, die selber Schriftstellerinnen sind oder sein könnten oder sein werden. Oft genug sind es ja Gedichte. Und jetzt: entwertet. Das heißt: Ich bleibe jetzt unangerührt. Auch von Briefen, die mich, als sie eingetroffen sind, geradezu gestreichelt haben.
    Ich bin nicht mehr der Adressat. Ich bin ein anderer. Und das durch Sie.
    Wie das?
    Ich weiß es nicht. Die Entwertung ist so krass, dass ich jetzt über diese Briefe urteile wie nie zuvor. Jetzt kommen sie mir sentimental, geschwätzig, aufgedonnert, wichtigtuerisch oder sogar lächerlich vor. Obwohl ich gegen Letzteres, sich lächerlich zu zeigen, nichts haben kann. Viele dieser Briefe sind geradezu Lob-Fontänen, Zustimmungs-Orgien. Sie glauben nicht, was ein Buch aus einer lebensbereiten Frau machen kann. Es schleudert Sätze aus ihr heraus, unter deren Herabregnen ich mich öfter gern gestellt habe. Je nachdem, wie die Welt gerade mit mir umging. Und jetzt: keine Wirkung mehr. Die Lob-Fontänen und Zustimmungs-Orgien nuscheln unerlebbar vor
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