Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition)
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
Molekülen, wenn sie etwas lernen? Können wir die Moleküle etwas lernen lassen, was sie ohne uns nicht könnten? Lernen, das ist die gegenseitige Wechselwirkung von Neuronen, die durch Milliarden Synapsen verbunden sind. Und: Können wir schneller lernen als die lerngierigsten Viren? Das Lernen ist ein reißender Fluss. Unser Unwissen wächst mit unserem Wissen, hat der verehrte Robert Huber gesagt. Und, hat er gesagt, wenn er so einen Satz gesagt haben wird, ist er schon nicht mehr der, der er vor diesem schönen Satz war.
    Leider habe ich bei diesem Satz den Gefeierten aus den Augen verloren, weil ich seine Frau anschauen musste und dann nicht mehr zuhören konnte. Ich schob meinen Stuhl weiter weg vom Tisch, dass meine Tischdame und die Frau des Bundespräsidenten nicht bemerken sollten, wie ich hinüberschaute zur Frau des Gefeierten. Ich kann mich an keinen Augenblick erinnern, in dem ich so traurig, so niedergeschlagen, so erledigt war wie in diesem Augenblick. Weil sie so unvergesslich aussah. Damit würde ich leben müssen. Dass das verlangbar ist, wusste ich. Aber diese Konstellation! Ein Mann wie der! Eine Frau wie die! Noch nie hatte ich erlebt, was für eine windige Figur ich war. Strandhafer! Und der da vorne hatte sich losgesagt von allen Karrieresprüngen, um der Menschheit direkt zu helfen. Adlershof, Medikamente nach Maß, schneller lernen als die schnellsten Viren. Das Gesicht der ihrem Mann zuhörenden Frau leuchtete. Vor Glück. Aber ohne buchstabierbare Stimmung. Das ruhigste Leuchten. Eine Gefasstheit, die mich mit meinem Gefühlselend in das Nichts verwies, in das ich gehörte. Ich ertrug es nicht, sie noch länger anzustarren.
    Ich griff nach dem Glas, trank aus. Hörte ihn noch sagen, er sei eben von Anfang an neugierig gewesen, deshalb habe er wissen wollen, was mit den Formeln passiere, wenn er sie aus der Papierebene in die dritte Dimension, in die Wirklichkeit, bringe. Er gestehe, der Abschied von den cathedrals of science sei ihm nicht leichtgefallen. Abschied von den Sphären, in denen die Sterne Kratky und Perutz leuchten, Abschied von den Lichtwelten Robert Huber, Bert Sakmann, Manfred Eigen, von einem Tag auf den anderen bist du nur noch nützlich. Nichts als nützlich. Dir und anderen. Anderen und dir. Das ist die selbstverschuldete Vertreibung aus dem Paradies. Erträglich nur dadurch, dass du eins nicht verlernt und nicht aufgegeben hast: das Fragen. Das versöhne ihn mit seinem Nützlichkeits-Schicksal, dass er ein Fragender geblieben sei, auch wenn die ersehnten Antworten der Nützlichkeit dienen. Seine liebe Frau, die jede Nuance seines Schicksals genauer erlebe, als er es auszudrücken vermöge, habe ihm für diese feierliche Stunde einen Satz von Martin Heidegger überlassen: Fragen sei die Frömmigkeit des Denkens. Also das doch!
    Heftiger Beifall. Der Hausherr stellte sich noch einmal neben seinen Gast, dankte und sagte uns, er habe vorher vergessen, die Festschrift zu erwähnen, auf jeden von uns warte am Eingang ein Exemplar: Von der Liebe zur Genauigkeit . Wieder Beifall.
    Dieser Bundespräsident ist ein Herzlichkeitstalent. Jetzt noch einmal eine Violinsonate. Von Mozart. Offenbar war vorher auch schon eine gespielt worden. Aber erst jetzt konnte ich hören. Diese Geigerin nahm meine Seele mit. Hatte ich je meine Seele so spürbar erlebt? Und die Folge der Töne, eine Gefühlsgeschichte wie noch nie. Weil ich immer wieder hinüberschaue zu dieser Frau mit dem großen Gesicht. Das Gesicht der Präsidentenfrau ist winzig dagegen. Ich brauchte ihr großes Gesicht. Sie sollte mir bestätigen, was die Geigerin mit meiner Seele machte. Zum Glück schaute sie nicht her. Das spürte ich doch noch. Wie ich jetzt wirken musste. Ganz und gar mitgenommen von dieser Musik!
    Dann wird doch aufgestanden. Zurück in den Vorsaal zu den hohen Tischchen. Und hinaus. Ich werde diese Frau nicht mehr sehen. Aber als sie als Erste aufstand und zielstrebig vom Tisch weg und zu ihrem Gefeierten ging, der sie so innig in seine Rede hineingenommen hatte, da habe ich sie noch fast eine Sekunde lang ganz gesehen. Gesehen, wie sie schritt. Vorwärtsschritt. Hin zu ihm. In ihrem Kostüm aus schmalsten Bändern. Sie hat mir durch keinen Blick bestätigt, dass sie mich wahrgenommen hat.
    Ich suchte Iris und fand sie. Komm, sagte ich und ging voraus. Also musste sie folgen.
    Draußen sofort zum Taxistand. Riehmers Hofgarten, sagte ich so ruhig, dass Iris nichts merkte. Sie griff nach meiner Hand. Du
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher