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Das Darwin-Virus

Das Darwin-Virus

Titel: Das Darwin-Virus
Autoren: Greg Bear
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kommen, und zog sich, schwerfällig wie ein Walross, zu Tilde hinauf.
    Schmutziggraue Brocken auf beiden Seiten ließen erkennen, wo sich das Bett des gefrorenen Baches befand. Er blickte auf das halb im Schatten liegende, enge Felstal, in dem früher ein kleiner Gletscher von Osten her heruntergeflossen war und die charakteristische, U-förmige Kerbe gegraben hatte. In den letzten Jahren hatte es nur wenig geschneit, und der Gletscher hatte sich auf seiner weiteren Wanderung aus der Kerbe zurückgezogen, sodass sie jetzt ein paar Dutzend Meter über seiner Hauptmasse lag.
    Mitch wälzte sich auf den Bauch und half Franco herauf, während Tilde an der Seite stehen blieb, so nah am Rand, als kenne sie keine Angst. Völlig gleichmütig, schlank und schön anzuschauen stand sie da.
    Mit gerunzelter Stirn sah sie Mitch an. »Es wird spät«, sagte sie.
    »Was kannst du in einer halben Stunde schon herausfinden?«
    Mitch zuckte die Schultern.
    »Wir müssen uns spätestens bei Sonnenuntergang auf den Rückweg machen«, sagte Franco zu Tilde. Dann grinste er Mitch an. »Gar nicht so teuflisch schwer, das Eis, wie?«
    »War halb so schlimm«, erwiderte Mitch.
    »Er lernt schnell«, sagte Franco zu Tilde, die jetzt den Blick hob.
    »Bist du schon mal im Eis geklettert?«
    »So nicht«, sagte Mitch.
    Sie gingen ein paar Dutzend Meter auf dem gefrorenen Bach entlang. »Noch zwei Mal klettern«, erklärte Tilde. »Franco, du gehst voraus.«
    Mitch blickte durch die kristallklare Luft über die Kante der Kerbe auf die sägezahnartigen Spitzen der höheren Berge. Immer noch hatte er keine Ahnung, wo er sich befand. Franco und Tilde wollten ihn lieber im Unklaren lassen. Seitdem sie in der großen, steingefliesten Gaststube Tee getrunken hatten, hatten sie mindestens zwanzig Kilometer hinter sich gebracht.
    Als er sich umdrehte, konnte er etwa vier Kilometer entfernt und Hunderte von Metern unter sich das orangefarbene Biwakzelt ausmachen. Es stand unmittelbar hinter einem Bergsattel und lag jetzt im Schatten.
    Der Schnee wirkte sehr dünn. Die Berge hatten gerade den wärmsten Sommer der modernen Alpingeschichte erlebt – einen Sommer mit verstärkter Gletscherschmelze, plötzlichen Überschwemmungen der Täler aufgrund heftiger Regenfälle und nur wenig Altschnee. Die globale Erwärmung war in den Medien mittlerweile ein Gemeinplatz, aber von seinem jetzigen Standpunkt aus erschien sie ihm nur allzu real, auch wenn er kein Fachmann war. Vielleicht würden die Alpen in wenigen Jahrzehnten nackt und bloß daliegen.
    Das relativ warme, trockene Wetter hatte die alte Höhle wieder zugänglich gemacht. Nur deshalb waren Franco und Tilde auf eine geheime Tragödie gestoßen.
    Franco verkündete, er sei gut oben angekommen. Während Mitch sich den letzten Felsen hinaufarbeitete, spürte er den Gneis unter seinen Stiefeln bröckeln und rutschen. Das Gestein war hier brüchig und an manchen Stellen weich wie Staub; lange Zeit, vielleicht Jahrtausende, hatte in diesem Gebiet Schnee gelegen.
    Franco reichte ihm die Hand, und zusammen sicherten sie das Seil, während Tilde sich hinter ihnen abstrampelte. Dann stand sie auf der Kante und blickte mit schützend über die Augen gelegter Hand direkt in die Sonne, die jetzt knapp über dem Horizont stand. »Weißt du, wo wir sind?«, fragte sie Mitch.
    Der schüttelte den Kopf. »So hoch war ich noch nie.«
    »Ein Flachlandindianer«, grinste Franco.
    Mitch zwinkerte.
    Sie starrten auf eine abgerundete, glitschige Eisfläche, den dünnen Finger eines Gletschers, der früher in mehreren eindrucksvollen Abstürzen zwölf Kilometer weit zu Tal geflossen war. Jetzt verlangsamte der Ausläufer seine Wanderung. Der Gletscherkopf weiter oben wurde kaum noch mit Schnee gefüttert. Die sonnenbeschienene Felswand über dem vereisten Riss des Bergschrundes stieg fast tausend Meter senkrecht in die Höhe, und der Gipfel lag höher, als Mitch zu blicken wagte.
    »Da«, sagte Tilde und wies auf die Felsen gegenüber, unterhalb eines Grats. Mit ein wenig Mühe konnte Mitch vor dem düsteren Schwarz und Grau einen winzigen roten Fleck ausmachen: eine Fahne aus Stoff, die Franco bei ihrem letzten Ausflug aufgestellt hatte. Sie machten sich über das Eis auf den Weg.
    Die Höhle war eine natürliche Felsspalte. Sie hatte eine kleine Öffnung von nur einem Meter Durchmesser, und die war künstlich hinter einer niedrigen Mauer aus kopfgroßen Steinen verborgen. Tilde holte die Digitalkamera heraus und
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