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Das Darwin-Virus

Das Darwin-Virus

Titel: Das Darwin-Virus
Autoren: Greg Bear
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nach längerem Abwägen vielleicht doch noch kaufen wollte. »Ich bin zweiunddreißig. Franco ist vierzig, aber er ist schneller als du.«
    »Zum Teufel mit Franco«, sagte Mitch ohne Wut.
    Tilde verzog amüsiert die Lippen. »Wir sind heute alle ein bisschen merkwürdig drauf«, sagte sie und wandte sich ab. »Das spürt sogar Franco. Aber noch so ein Eismensch … was wäre der wert?«
    Schon der Gedanke daran ließ Mitch schwerer atmen, und das konnte er jetzt nicht gebrauchen. Seine Aufregung legte sich gleich wieder und mischte sich mit der Erschöpfung. »Weiß ich nicht«, sagte er.
    Damals in Salzburg hatten sie ihn in ihre kleinen Krämerseelen blicken lassen. Sie waren ehrgeizig, aber nicht dumm; Tilde war sich völlig sicher, dass sie dieses Mal nicht einfach wieder einen toten Bergsteiger gefunden hatten. Sie musste es wissen. Mit vierzehn hatte sie beim Abtransport von zwei Leichen geholfen, die eine Gletscherzunge ausgespuckt hatte. Eine war über hundert Jahre alt gewesen.
    Mitch fragte sich, was wohl geschehen würde, falls sie wirklich einen echten Eismenschen gefunden hatten. Auf lange Sicht würde Tilde mit Ruhm und Erfolg nicht fertig werden, da war er sicher. Franco besaß den nötigen Gleichmut, aber Tilde war auf eine bestimmte Art zerbrechlich. Zwar konnte sie wie ein Diamant Stahl zerschneiden, aber ein Schlag aus der falschen Ecke, und sie würde zerbrechen.
    Mit dem Ruhm mochte Franco zurecht kommen, aber würde er auch mit Tilde fertig werden? Trotz allem mochte Mitch den Italiener.
    »Noch drei Kilometer«, erklärte ihm Tilde. »Los!«
    Gemeinsam mit Franco zeigte sie ihm, wie man an dem gefrorenen Wasserfall hochklettern konnte. »Der hier ist nur im Hochsommer flüssig«, sagte Franco. »Jetzt ist er schon seit einem Monat fest. Verstehst du, wie er gefriert? Hier unten ist er dick.« Er schlug mit seinem Pickel gegen die blassgrauen Orgelpfeifen. Das Eis klickte, ein paar Splitter lösten sich. »Aber weiter oben ist er dünn, voller Blasen, brüchig. Wenn man falsch dagegen schlägt, fallen große Brocken runter und können jemanden verletzen. Tilde könnte ein paar Stufen hineinhauen, aber du nicht. Du kletterst zwischen Tilde und mir.«
    Tilde ging als Erste, ein ehrliches Eingeständnis von Franco, dass sie die bessere Bergsteigerin war. Als der Italiener die Seile knotete, bewies Mitch ihnen, dass er sich noch an die Schleifen und Knoten aus der Zeit erinnerte, als er in den Cascades im Staat Washington geklettert war. Tilde zog eine Grimasse und knüpfte ihm das Seil im Alpinstil um Taille und Schultern. »Du kannst den größten Teil der Strecke vorwärts gehen. Denk’ dran, ich schlage Stufen, wenn du sie brauchst. Ich möchte nicht, dass du Eis auf Franco runtertrittst«, sagte sie und übernahm die Führung.
    Als Mitch die Hälfte der Säule hinter sich hatte und sich mit den Spitzen seiner Steigeisen eingrub, überschritt er eine Schwelle: Ihm war, als falle die Erschöpfung in wellenartigen Schüben von ihm ab, verlasse ihn auf dem Weg über seine Füße. Einen Augenblick lang war ihm schwindelig. Dann fühlte sein Körper sich sauber an, als habe reines Wasser ihn durchspült, und sein Atem ging leicht. Er folgte Tilde, rammte die Steigeisen ins Eis, beugte sich weit nach vorn und griff nach jedem verfügbaren Halt. Den Pickel setzte er nur sparsam ein. Die Luft war knapp über dem Eis tatsächlich wärmer.
    Bis zur halben Höhe brauchten sie eine Viertelstunde, danach wetterten sie auf das leicht gelbliche Eis zu. Die Sonne schien hinter niedrigen grauen Wolken hervor, beleuchtete den gefrorenen Wasserfall im spitzen Winkel und schien Mitch an einer Mauer aus durchscheinendem Gold festzunageln.
    Er wartete, bis Tilde ihm sagte, sie sei heil oben angekommen.
    Franco gab, wie so oft, eine einsilbige Antwort. Mitch bahnte sich den Weg zwischen zwei Säulen hindurch. Das Eis war hier tatsächlich unberechenbar. Er krallte sich mit den seitlichen Spitzen ein und schickte eine Wolke aus Splittern zu Franco hinunter.
    Franco fluchte, aber Mitch brach kein einziges Mal ein und stürzte nicht ins Seil; das war ein Segen.
    Während er auf allen Vieren vorwärts über die unebene, abgerundete Kante des Wasserfalls kroch, glitten seine Handschuhe beängstigend leicht an den Eisrinnen ab. Er strampelte mit den Füßen, bekam mit dem rechten Stiefel eine Felskante zu fassen, krallte sich fest, fand auf weiterem Fels einen festen Punkt, wartete einen Augenblick, um wieder zu Atem zu
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