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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima
Autoren: Franziska Wulf
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erkundigte, war wirklich sehr nett. Während sie zum Telefon griff, um auf der Aufnahmestation nachzufragen, registrierte Beatrice jede Kleinigkeit an ihr - das sorgfältig hochgesteckte Haar, das dezente Make-up mit dem zartrosa Lippenstift, die manikürten Fingernägel, die frisch gebügelte Bluse. Diese Frau sah aus wie alle anderen Frauen, die überall in den Eingängen der Hamburger Krankenhäuser in ihren Glaskästen saßen und durch den schmalen Sprechschlitz hindurch geduldig und freundlich die Fragen von Patienten und Besuchern beantworteten. Und doch war gerade diese ältere Dame jetzt der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Es kam Beatrice vor, als hätte sie allein Michelles und damit auch ihr eigenes Schicksal in der Hand.
    »Ich suche eine Michelle Helmer, dreidreiviertel Jahre alt«, sagte die Dame gerade mit freundlicher, angenehmer Stimme in den Telefonhörer. »Sie wurde vor etwa einer Stunde eingeliefert. Ist die Kleine noch bei euch? Die Mutter steht gerade vor mir.« Sie machte eine Pause, um die Antwort zu hören. »Gut. Ich sage es ihr.«
    Beatrice spürte, wie ihr Herzschlag aussetzte.
    Ich komme zu spät!, schoss es ihr durch den Kopf. Es war alles umsonst.
    Schreckliche Bilder tauchten vor ihren Augen auf und peitschten wie Stromschläge durch ihr Gehirn. Bilder, die keine Mutter, kein Vater auf der Welt jemals sehen wollte.
    Die Pförtnerin legte den Hörer auf.
    »Frau Helmer«, begann sie.
    Diese sanfte, ruhige und einfühlsame Stimme! So sprach jemand, der eine schlimme Nachricht zu überbringen hatte.
    Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ihre Tochter ... Die Ärzte haben wirklich alles getan, aber ... setzte Beatrice den Satz im Stillen fort und versuchte sich gegen die furchtbare Wahrheit zu wappnen. Doch das überstieg ihre Kräfte. Sechsunddreißig Jahre Lebenserfahrung, neun Monate Schwangerschaft, fast vier Jahre Erziehung eines Kindes, nicht einmal die Zeitreisen quer durch die Weltgeschichte hatten sie auf diese Situation vorbereiten können. Ihre Knie wurden weich wie Butter. Mühsam klammerte sie sich an dem schmalen Tresen vor dem Glaskasten fest. Ein nicht einmal zehn Zentimeter breites Stück Sperrholz bewahrte sie davor, hier im Eingang des Kinderkrankenhauses auf den Boden zu sinken.
    »Ihre Tochter wurde bereits verlegt«, sagte die Dame freundlich. »Sie befindet sich auf der Intensivstation.«
    »Intensivstation?« Beatrices Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie spürte eine Woge der Erleichterung über sich hinwegrollen. Intensivstation. Diese Vorstellung war zwar schrecklich genug, aber sie ließ wenigstens noch Raum für Hoffnung. »Wie komme ich dorthin?«
    »Vorne rechts den Gang hinunter«, erklärte ihr die Dame bereitwillig und deutete in die entsprechende Richtung. »Außerdem ist es ausgeschildert. Sie können es nicht verfehlen. An der Glastür bitte einmal klingeln. Die Schwestern wissen Bescheid.«
    »Danke.«
    Beatrice eilte den Gang entlang bis zu einer Glastür. Schon von weitem konnte sie das Wort »Intensivstation« lesen, das in großen schwarzen Buchstaben auf dem Milchglas prangte. Keuchend blieb sie stehen, um ihre Gedanken zu sammeln. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie schnell sie gerannt war.
    Die Tür war so breit, dass man spielend mit zwei Betten gleichzeitig hindurchfahren konnte - oder mit einem Bett, an dem rechts und links Beatmungsgerät, Monitore für EKG und EEG, Infusionsständer und andere Gerätschaften hingen, die das Überleben eines intensivpflichtigen Patienten sichern sollten. Einer dieser Patienten war nun auch Michelle. Ihre Michelle. Beatrice wurde übel. Sie drückte auf den Klingelknopf. Ihr Finger zitterte so stark, dass sie die Taste erst nach mehreren Anläufen traf.
    Eine Ewigkeit verging, bis sie endlich hinter den Milchglasscheiben den Schatten einer blau gekleideten Gestalt entdeckte, die sich schließlich ihrer erbarmte und die Tür öffnete.
    »Guten Tag«, sagte Beatrice zu der jungen Schwester, die ihr einen überraschten Blick zuwarf. Vielleicht wegen der weißen Kleidung. »Mein Name ist Helmer. Man hat mir gesagt, meine Tochter sei hier. Michelle Helmer.«
    Die Schwester nickte und lächelte freundlich.
    Sie sind alle so freundlich und lächeln, dachte Beatrice nicht ohne Bitterkeit. So als wüssten sie nicht, weshalb du hier bist. Vermutlich lächeln sie auch dann noch, wenn sie dir mitteilen, dass du eben dein Kind verloren hast.
    »Kommen Sie, Frau Helmer. Ich bringe Sie zu unserem Wartezimmer.
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